Führungskräfte in Geiselhaft? Was in vielen Ländern ein Fall für Spezialkräfte der Polizei wäre, droht in Frankreich zur normalen Eskalationsstufe im Konflikten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu werden.
Im Kampf um höhere Abfindungen setzten aufgebrachte Mitarbeiter eines Reifenherstellers jetzt mehr als einen Tag lang zwei Vorgesetzte fest. Erst nach 29 Stunden kamen die beiden Manager am Dienstagnachmittag wieder frei.
Betroffen war diesmal der US-Konzern Goodyear. Das Unternehmen hatte vor rund einem Jahr die Schliessung seines nordfranzösischen Standorts Amines-Nord angekündigt, nachdem Gewerkschaften Sanierungspläne mehrfach abgelehnt hatten. Rund 1200 Mitarbeiter verlieren nun ihren Job.
Forderungen
«Die Arbeitsplätze sind verloren. Jetzt geht es darum, so viel Geld wie möglich herauszuholen», gab ein Gewerkschaftsmitglied am Dienstag offen in einem TV-Interview zu. Wenn das Werk schon geschlossen werde, müsse es wenigstens ordentliche Abfindungen geben. Zwischen 80'000 und 180'000 Euro fordern die Arbeitnehmer - je nach Beschäftigungsdauer im Unternehmen. Zudem soll es 24 statt 15 Monate bezahlte Umschulung geben.
Ob es damit etwas wird, war am Dienstag allerdings völlig unklar. Auf Druck des zuständigen Präfekten hin liessen die Goodyear-Arbeiter ihre beiden Geiseln am Nachmittag laufen. Im Gegenzug wurde allerdings die Fabrik besetzt. Das Gelände werde erst geräumt, wenn das Unternehmen sich zur Zahlung höherer Abfindungen zahle, hiess es.
Gute Behandlung
Kritik am eigenen Verhalten wollen die Geiselnehmer dabei nicht akzeptieren.
Die Gewerkschaften sind traditionell stark in Frankreich. (Archivbild) /


«Sie essen, sie können zur Toilette gehen», hatte Gewerkschaftsmitglied Mickaël Mallet während der Geiselnahme erklärt. Zudem könnten die festgehaltenen Manager mit ihren Angehörigen telefonieren.
Die Geiselnahme sei «vollkommen inakzeptabel» und eine «vorsintflutliche Praktik», kommentierte hingegen der Unternehmerverband Medef. Er hatte schon bei ähnlichen Fällen in der Vergangenheit vor massiven Schäden für das Image Frankreichs als Wirtschaftsstandort gewarnt.
In der zweitgrössten EU-Volkswirtschaft kommt es immer wieder zu militanten Aktionen wütender Beschäftigter. In den vergangenen Jahren wurden mehrfach Topmanager von Firmen wie Sony, Caterpillar, Scapa, 3M und Still von aufgebrachten Arbeitnehmern stundenlang in Geiselhaft genommen. Viele erreichten mit den Aktionen beispielsweise höhere Abfindungen. Die Polizei ist bei den Geiselnahmen meist nur als Beobachter vor Ort. Als Ursache der Zurückhaltung gilt die Angst der Unternehmen vor einer Eskalation der Lage.
Fassungslos
Manager aus dem Ausland sind angesichts solcher Tatenlosigkeit fassungslos. «In den USA würde man so etwas Kidnapping nennen. Diese Leute würden festgenommen werden», kommentierte der Chef des US-Konzerns Titan, Maurice Taylor, am Dienstag in einem Interview des französischen Radiosenders Europe 1. Es sei verrückt, dass die Regierung nichts gegen solche Arbeiter unternehme.
Titan hatte eine zeit lang als möglicher Käufer des Goodyear-Werks gegolten, dann aber abgesagt. In einem Brief an Industrieminister Arnaud Montebourg hatte Titan-Chef Taylor bereits damals den Standort und die Mitarbeiter heftig kritisiert.
«Die französischen Beschäftigten bekommen hohe Gehälter, aber sie arbeiten lediglich drei Stunden. Sie haben eine Stunde für ihre Pausen und das Mittagessen, unterhalten sich drei Stunden und arbeiten drei Stunden», kommentierte er damals. «Ich habe das den Gewerkschaftern ins Gesicht gesagt und sie haben mir geantwortet, das sei so in Frankreich.» Sein Konzern sei nicht so blöd, den Standort zu übernehmen.