Das Gelände mit seinen hochkarätigen Bauten ist einzigartig,
die davon ausgehende Faszination für die internationale
Architektur- und Designszene ebenfalls. Weshalb gerade im
Provinzstädtchen Weil am Rhein eine solche Anhäufung von
Architekturperlen zu finden ist, hat einen interessanten Hintergrund:
Ausgelöst durch einen Blitzschlag, zerstörte 1981 ein
Brand fast die Hälfte der Fabrikationsbauten der Firma Vitra am
Firmensitz in Weil am Rhein. Rolf Fehlbaum beauftragte in Folge
den britischen Architekten Niklas Grimshaw einerseits mit
der Planung und dem Bau von zwei Produktionshallen, andererseits
mit der Ausarbeitung eines Masterplans für das gesamte
Firmenareal.
Dank Fehlbaums Kenntnis aktueller Tendenzen
in der Architektur und seiner Affinität für zeitgemässes Design
sollte das Gelände sukzessive in Zusammenarbeit mit progressiven
und innovativen Architekten eine neue Gestalt annehmen.
Fehlbaum hatte wenige Jahre zuvor die Leitung des
Unternehmens von seinem Vater übernommen und war willens,
auf dem Firmengelände den sogenannten Vitra Campus
ausschliesslich mit hochkarätiger Architektur zu bebauen; als
Zeichen für die Kreativität und das kulturelle Bewusstsein des
Unternehmens.
Neben den Fabrikhallen von Niklas Grimshaw,
Frank O. Gehry und Alvaro Siza entstanden mit den Jahren das
Vitra Museum von Frank O. Gehry, ein Konferenz-Pavillon von
Tadao Ando und ein Feuerwehrhaus von Zaha Hadid, eine
Bushaltestelle von Jasper Morrison, eine Tankstelle von Jean
Prouvé und ein „Dome“ von Buckminster Fuller.
Momentan im Bau ist die Fabrikationshalle für Vitra-Shop der
Architekten von Sanaa. Vorläufiger Höhepunkt auf dem Vitra
Campus ist das kürzlich eröffnete sogenannte VitraHaus.
Das geschichtete Haus
Im Jahr 2006 erhielten Herzog & de Meuron den Auftrag, das
VitraHaus für die 2004 lancierte Home Collection zu entwerfen.
Am nördlichsten Rand des Firmengeländes, gut sichtbar
direkt neben der Hauptstrasse gelegen, präsentiert sich das VitraHaus
als verschachtelter Stapel einer archetypischen Hausform.
Mit maximalen 57 Metern Länge, 54 Metern Breite und
21,30 Metern Höhe überragt das VitraHaus die übrigen Gebäude
auf dem Gelände. Dank seiner exponierten Lage und der
markanten Gestalt kommt dem neuen Gebäude auch die Funktion
einer Markierung des Vitra Campus zu.
Ziel war kein horizontales Gebäude, wie es für Produktionshallen
typisch ist, sondern ein sparsam mit dem Boden umgehendes,
vertikal ausgerichtetes Bauwerk, das in mehrfacher
Hinsicht Überblick gewährt: Überblick über die umgebende
Landschaft und den Produktionsstandort, aber auch über die
Home Collection.
Das Thema des Urhauses und das der Stapelung sind zwei Themen,
die im Portfolio von Herzog & de Meuron wiederholt auftauchen.
Die Architekten nehmen beim VitraHaus die archetypische
Gebäudeform des Giebelhauses auf, verlängern sie
und stapeln eine Reihe solcher Häuserriegel übereinander.
Für die Funktion lag es besonders nahe, beim VitraHaus auf die
Idee des Urhauses aus fünf Flächen zurückzukehren, denn im
Innern des Baus sollen Einrichtungsgegenstände für den häuslichen Gebrauch präsentiert werden.
Das VitraHaus: Dramatische Verformungen durch Durchdringung der Riegelelemente /

Innen- und Aussenraum durchdringen sich /

Ausblicke auf die Hügellandschaft der Umgebung /


Die Proportionen und
Dimensionen der einzelnen Räume erinnern deshalb an vertraute,
wohnlich konnotierte Raumsituationen. Die einzelnen
„Häuser“, die jeweils einem Präsentationsraum entsprechen,
werden als abstrakte Elemente aufgefasst; sie sind mit wenigen
Ausnahmen nur an den Stirnseiten verglast. So erschliesst die
Architektur dem Besucher einen Parcours der Überraschungen
und erlaubt Blicke in die Weinberge des Tüllinger Hügels, über
den Vitra Campus, in Richtung Basel und ins Elsass.
In insgesamt fünf übereinandergeschichteten Ebenen – das
Gebäude hat eine Gebäudegrundfläche von 1324 Quadratmetern
bei einem Volumen von 22‘755 Kubikmetern – ergeben die
zwölf Häuser eine dreidimensionale Assemblage, einen Häuserhaufen
der besonderen Art. Als Folge der gegenseitigen Durchdringung
der Riegel entstehen dramatische Verformungen und
Durchblicke sowie Auskragungen von bis zu 15 Metern. Bodenplatten
dringen jeweils in die Giebelbereiche der darunterliegenden
Ebene ein. Innen- und Aussenraum durchdringen sich
ebenso wie die zwei Formenwelten; die orthogonal-polygonale,
von aussen ablesbare, und die organische, die immer wieder
mit räumlichen Überraschungen aufwartet.
Wie eine kleine in die Vertikale geschichtete Stadt fungiert das
VitraHaus als neuer Auftakt des Campus. Ein holzbeplankter
Platz bildet das offene Zentrum, um das sich fünf Gebäude
gruppieren: ein Konferenzbereich, ein Ausstellungsraum für
die Stuhlsammlung des Vitra Design Museums sowie ein Konglomerat
aus dem Shop des Vitra Design Museums, dem Foyer
mit Rezeption und Garderobe sowie einem Café mit Terrasse.
Über einen Lift erreichen die Besucherinnen und Besucher das
vierte Obergeschoss, wo der Rundgang beginnt. Tritt man aus
dem Lift, so bietet die verglaste Nordseite des Raumes einen
Ausblick auf die Hügellandschaft der Umgebung. Auf der Gegenseite
– hier ist die Glasfront zugunsten einer Aussenterrasse
zurückgesetzt – öffnet sich ein Panorama auf Basel mit den
Bauten der pharmazeutischen Industrie.
Wie sich beim Weg
durch das Haus verdeutlicht, ist die Ausrichtung der Häuser
keinesfalls zufällig erfolgt, sondern auf die Ausblicke abgestimmt.
Die Komplexität im Inneren wird nicht nur durch die winkelförmige
Verschneidung der einzelnen Häuser erzielt, sondern
auch durch die Integration eines zweiten geometrischen Konzepts.
Sämtliche Treppen sind in organisch ausschwingende,
sich gleichsam wurmartig durch die einzelnen Ebenen fressende
Volumina integriert: Mal öffnen sich spannende Sichtbeziehungen
zwischen den unterschiedlichen Häusern, mal versperren
die Einbauten den Blick. Die Innenräume selbst sind
weiss gehalten und lassen den Möbelinszenierungen den Vorrang.
Der Anthrazitton der äusseren Putzhaut vereinheitlicht
das Gebilde, „erdet“ es und verbindet es mit der umgebenden
Landschaft.