Im Blitzlichtgewitter der Photographen und Fernseh-Kameras ging Phu Trong gemessenen Schrittes seiner Wahlpflicht nach und sprach dann, wie es sich für den höchsten Mandarin des 86-Millionen-Volkes gehört, gelassen grosse Worte in die Mikrophone: «Wir stehen vor grossen Herausforderungen».
Das Wahlresultat wird in etwa einer Woche erwartet. Bereits ist so viel gewiss: allzu viele Veränderung werden die Abgeordneten des neuen Volkskongresses wohl nicht in Bewegung setzen. Das Sagen nämlich hat, wie in jedem kommunistischen Staat, nicht das formal höchste Staatsorgan, also das Parlament, sondern die Partei. Sie hat, wie es in einem schönen Lied aus alten DDR-Zeiten heisst, immer Recht. So auch in Vietnam. Im Januar entschied, wie alle fünf Jahre, bereits der Parteitag über die Richtlinien der Politik, der Gesellschaft und mit einem Fünfjahresplan über die Wirtschaft. Auch Personalentscheide wurden abschliessend behandelt. Als neuer Parteichef und Primus inter Pares des alles entscheidenden 14-köpfigen Politbüros setzte sich der konservative und China-freundliche Nguyen Phu Trong durch, während der amtierende Ministerpräsident Nguyen Tan Dung seine Stellung festigen konnte.
Die Partei kündigte die Wahlen als «grosses politisches Ereignis an». In den Strassen der Städte, vor allem der Hauptstadt Hanoi, sorgten rot-weisse und rot-gelbe Banderolen für eine Auflockerung des Strassenbildes. Fahnen mit Hammer und Sichel verschönerten das Bild. Das permanente Geräusch der Motorroller und Motorräder wurde schon ab sechs Uhr früh von stramm-patriotischer Musik aus den seit Jahrzehnten überall angebrachten Lautsprechern übertönt. Dazwischen in pathetischem Propagandaton Aufrufe, doch bitte die Wahlpflicht zu erfüllen. «Lasst uns überlegt Vertreter in die Nationalversammlung wählen», hiess es etwa auf einem Schriftband, «die über genügend Talent und Moral verfügen». Die meisten Vietnamesinnen und Vietnamesen finden das recht schwierig, kennen sie doch von den 827 Kandidaten für die 500 Parlamentssitze kaum jemanden, schon gar nicht, was Talent und Moral betrifft. Das spielt wohl auch keine Rolle, sind doch rund neunzig Prozent aller Kandidaten Mitglieder der KP. Sicher, auch fünfzehn Unabhängige kandidierten. Diese aber wurden von der KP aus 83 Kandidaten handverlesen gesiebt und für gut befunden. Der unabhängige katholische Advokat Le Quoc Quan zum Beispiel schaffte es nicht. Wohl zu oft hatte er sich für eine Demokratie mit mehreren Parteien ausgesprochen.
Die KP aber hat eben erst am Kongress im Januar ein Mehrparteien-System kategorisch ausgeschlossen. Kaum überraschend deshalb, dass sich wenige der auf der Strasse Angesprochenen für die Wahlen interessierten. «Veränderungen oder frische Ideen», sagte ein Lehrer, «wird es kaum geben, aber ich lasse mich gerne überraschen». Doch so zahnlos, wie das Parlament auf den ersten Blick erscheinen mag, ist es wohl doch nicht ganz. Im vergangenen Jahr jedenfalls lehnte es, entgegen dem Wunsch der mächtigen KP, den Bau einer Hochgeschwindigkeits-Eisenbahn von Hanoi nach Ho-Chi-Minh-Stadt überraschend ab. Die rund 1800 Kilometer lange Strecke hätte 56 Milliarden Dollar gekostet und wäre mit Hilfe des grossen Nachbarn China gebaut worden.
Wahlen in Vietnam: zur Wahl stehen 15 Unabhängige und 812 KP-Leute. Tolle Auswahl. /


Ebenso ungewöhnlich war der Antrag für ein später natürlich abgelehntes Misstrauensvotum gegen den Premierminister wegen Mauscheleien und enormen Verlusten beim staatlichen Schiffbauunternehmen Vinashin. Die Parlamentarier forderten überdies verschiedentlich die Regierung auf, strenger und vor allem effektiver gegen Korruption vorzugehen. Der Stellvertretende Parlaments-Generalsekretär gibt sich optimistisch: «Der Kampf für Transparenz und Verantwortlichkeit muss verstärkt werden».
Gäbe es jetzt freie Wahlen, hätten die Vietnamesinnen und Vietnamesen fürs erste wohl doch kommunistisch gestimmt. Die KP ist die einzige national organisierte Kraft, und sie hat - wirtschaftlich vor allem - seit der Öffnung und Reform «Doi Moi» (1986) der Bevölkerung viel gebracht. Die Wirtschaft wuchs in den letzten 25 Jahren im Durchschnitt mit rund sieben Prozent per annum. Das kam dem Volk zugute.
Die Arbeitslosigkeit liegt heute bei rund drei Prozent, das Brutto-Inlandprodukt (BIP) pro Kopf bei beachtlichen 3'100 Dollar. Unter der Armutsgrenze leben noch knapp zehn Prozent. Vietnam ist zwar noch immer ein relativ armes Land, doch mit einer Wirtschaftsstruktur von vierzig Prozent Industrie (BIP-Anteil), vierzig Prozent Dienstleistungen und nur noch zwanzig Prozent Landwirtschaft bereits ein Schwellenland. Die Probleme für die nächsten Jahre sind dennoch gross, allem voran eine Inflation, die im April im Jahresvergleich satte 17,5 Prozent erreicht hat. Unter der Inflation leiden besonders die ärmeren Schichten. Die KP-Führung hat deshalb aus Furcht vor Unruhen dem Kampf gegen die Inflation hohe Priorität eingeräumt. Nicht zu Unrecht, denn in den ersten vier Monaten ist es nach amtlichen Zahlen bereits zu 220 Streiks gekommen, während es im ganzen Jahr zuvor nur zu 216 Arbeitsniederlegungen gekommen war.
Korruption und Missmanagement grosser Staatsbetriebe sind ähnlich Probleme, die - wenn auch selektiv - von der staatlichen Propaganda angeprangert werden. Nicht von ungefähr, denn nichts empört den Durchschnittsbürger mehr, als Beamte, die sich am Volksvermögen selbst bedienen, illegal und jenseits jeder sozialistischen Moral die eigenen Taschen füllen und sich dabei eine goldene Nase verdienen. Auch hier also ein grosses Unruhe-Potential.
Die Herausforderungen für Parteichef Nguyen Phu Trong sind tatsächlich gross. Es hilft wenig, das Phu Trong auf bewährte kommunistische Art «feindliche Kräfte» ausgemacht haben will, die «sich noch immer verschwören, um die Nation zu sabotieren». Gefährlich ist vielmehr Korruption, Inflation und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Die KP sorgt seit Jahren mit Repression dafür, dass die Dissidenten-Szene das bleibt, was sie ist, nämlich relativ klein, unbedeutend und machtlos. Kürzlich wurde Cu Huy Ha Vu zu sieben Jahre Gefängnis und drei Jahre Hausarrest verurteilt. Die westlichen Medien nahmen davon kaum Notiz. Der Advokat und Sohn eines ehemaligen hohen KP-Funktionärs machte sich der «Propaganda gegen den Staat» schuldig, weil er ein Mehrparteien-System gefordert hatte.
Die Partei indes hat aus Erfahrung gelehrt. Mit parteiamtlichen genausogut wie repräsentativen Umfrangen sowie mit Anhörungen versuchen Hanois rote Manadarine dem Volk den Puls zu fühlen. Denn sie wissen, dass man in einem konfuzianisch autoritären System zwar
ohne Volk regieren kann. Nie aber
gegen das Volk.