Man braucht es gar nicht zu leugnen: Der Fakt zeichnet ein ernüchterndes Bild der aktuell bestehenden transatlantischen Beziehungen - obgleich Russlands aggressive Politik im Osten zeigt, wie sehr ein starkes politisches Gegengewicht vonnöten wäre.
Die Allianz zwischen Europa und den USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, war lange eine wichtige Antriebskraft für Frieden und Wohlstand auf der ganzen Welt. Gemeinsam überwand man den Kalten Krieg und kämpfte für gemeinsame Werte. Doch nachdem jüngst bekannt wurde, dass Amerika seine Freunde ausspioniert hat und Europa als Konsequenz dem alten Partner grollt, ist es höchste Zeit, alte Bande neu zu knüpfen, damit beide Seiten zur nächsten Stufe übergehen können.
Wie in einer Ehe, in der die Kinder schon lange aus dem Haus sind, haben sich Europa und Amerika auseinandergelebt.
Während die europäischen Länder enger zusammengerückt sind und ihre wirtschaftliche Macht in einer Freihandelszone sowie einer politischen Union gebündelt haben, hat sich Washington in eine neue Ära der Isolation manövriert.
Nun beäugen sich beide Seiten misstrauisch
Jüngere, aufstrebende Volkswirtschaften haben die einstigen Freunde in Versuchung geführt, und wenngleich es noch nicht an der Zeit ist, die Scheidungsanwälte herbeizurufen: Ein Realitätstest ist längst überfällig. Was wäre also eine bessere Entschuldigung für die nötige Bestandsaufnahme als eine vergleichsweise neue Initiative, die «Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft» (kurz THIP) - das grösste Freihandelsabkommen in der Geschichte und gleichzeitig Eckpfeiler eines neuen wirtschaftlichen Zeitalters. Machen wir uns nichts vor: Handel ist nicht gerade ein Thema, das besonders sexy ist. Doch würden sich die Politiker zurücknehmen und das liebe Geld in den Vordergrund rücken, würden die Bürger sicher auch aufmerksamer zuhören.
700 Millionen mögliche Kunden
Und in ein paar Jahren werden die Vor- und Nachteile der zunehmenden Globalisierung erneut ganz oben auf der politischen Agenda stehen - ganz gleich, welcher Weg bis dahin eingeschlagen wird. Das Handelsabkommen ist ein ambitioniertes Projekt. Vielleicht ein bisschen zu ambitioniert, wenn man bedenkt, dass in dieser Region ein freier Markt mit 700 Millionen möglichen Kunden geschaffen werden soll. Ein Schritt, der nach Einschätzung von Experten beiden Wirtschaftsräumen bis zum Jahr 2027 circa ein halbes Prozent mehr Wachstum bescheren könnte.
Doch jedes Abkommen dieser Art bedarf endloser Verhandlungen und Gesprächen mit Vertretern riesiger Industriezweige, ungezählter Stunden auf Interkontinentalflüge und langer Diskussionen über Richtlinien zu Gesundheit, Sicherheit und Agrarhandel - zusätzlich zu einer Vielzahl anderer Themen. Eurokraten werden zutiefst enttäuscht sein, sollte Barack Obama bei seiner Rede dieses Thema nicht eingehend behandeln.
EU-Handelskommissar Karel De Gucht erzählte mir bei einer Veranstaltung, die von der amerikanischen Stiftung «German Marshall Fund» organisiert wurde, dass jedes lohnenswerte Handelsabkommen «ambitioniert» sein müsse.
Zahlreiche gescheiterte Verhandlungen der WTO haben uns jedoch gezeigt, dass es nichts bringt, zu viele Themen gleichzeitig auf den Tisch zu bringen, da dabei oft genug gar nichts herausspringt.
EU-Handelskommissar Karel De Gucht: «Jedes lohnenswerte Handelsabkommen muss 'ambitioniert' sein.» /


Damit das Freihandelsabkommen eines Tages zustande kommt, müssen drei Punkte erfüllt sein: Zum einen muss es den Politikern der betroffenen Länder gelingen, ihren Bürgern die Idee schmackhaft zu machen und sie von den wirtschaftlichen Vorteilen überzeugen.
Zusätzliches Wirtschaftswachstum in Höhe von 214 Milliarden Euro
Nach Hochrechnungen der Europäischen Kommission könnte eine transatlantische Freihandelszone beiden Seiten ein zusätzliches Wirtschaftswachstum in Höhe von 214 Milliarden Euro bescheren. Zweitens könnte das Abkommen beiden Seiten die Chance bieten, endlich überflüssige Bürokratie abzubauen, existierende Regeln und Vorschriften zu harmonisieren und ein neues Rahmenwerk zu schaffen, das es leichter machen wird, gemeinsame Rechtsvorschriften zu formulieren.
Einen entscheidenden Unterschied könnte das Handelsabkommen beim Thema Investitionen machen. Die Wirtschaftsräume verzeichnen momentan Geldströme in Höhe von 4 Billionen Dollar und stützen 7 Millionen Arbeitsplätze. Sollte die Freihandelszone den Wirtschaftsführern zuversichtlich vermitteln, dass man sich nun in einem besseren, weniger bürokratischen Handelsklima befinde, könnten sich diese Zahlen schnell vergrössern.
So zumindest die Theorie, doch wie steht es mit der Praxis?
Subventionen abzuschaffen sowie andere nichttarifäre Handelshemmnisse und Zollschranken abzubauen, ist recht unpopulär - vor allem in Branchen wie der Chemie- oder der Automobilindustrie, die an jeder Ecke einen ihrer hervorragenden Lobbyisten postiert haben. Um effektiv zu sein, muss jede Neuregelung auch bislang unbekannte, komplexe und immaterielle Güter wie beispielsweise Daten umfassen und zugleich Europas Suche nach neuen Energielieferanten mit Amerikas Wunsch, den Ölüberschuss im Land für sich selbst zu beanspruchen, miteinander vereinbaren. Die ersten Schritte in puncto Freihandelszone werden wohl erst nach den US-Kongresswahlen im November eingeleitet. Selbst dann wird es schwer genug sein, das Konzept einem zunehmend protektionistisch eingestellten Kongress zu verkaufen. Und in Europa steht Ende Mai die Wahl zum Europäischen Parlament bevor, was den Ablauf zusätzlich verzögern wird. Sollte diese gewinnbringende Partnerschaft ausgerechnet jetzt - während andere Abkommen in einer Sackgasse stecken - nicht geschlossen werden, wären die Opportunitätskosten für die einflussreichste Allianz der Welt extrem hoch.
Die transatlantischen Beziehungen brauchen eine neue Bestimmung
Obwohl die zwei nicht gerade ihre diamantene Hochzeit feiern, ist es an der Zeit, die alten Versprechen zu erneuern und darüber nachzudenken, zusätzlich etwas in den Rentenfond einzuzahlen. Und wo sollte man da besser anfangen als beim Handel.
Über Nina dos Santos:
Nina Dos Santos moderiert die tägliche Wirtschaftssendung World Business Today auf CNN International. Für den Nachrichtensender hat sie bereits aus Brüssel, Paris und Rom über die EU-Schuldenkrise berichtet und führende Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft interviewt, darunter IWF-Chefin Christine Lagarde, die Premierminister von Schweden, der Tschechischen Republik und Luxemburg sowie José Manuel Barroso, den Präsidenten der EU-Kommission.