Und Millionen von Bürgern, die vor kurzem unter «Schmähkritik» noch eine Missbilligung der Wiener Wesensart verstanden hätten, zitieren nun wie aus dem Stegreif Gesetzesparagraphen wie zum Beispiel StGB Art. 296, welcher die Beleidigung eines fremden Staats oder dessen Oberhauptes unter Strafe stellt. Es steht ausser Frage: Satire hat eine gesellschaftliche Relevanz erreicht, die sie lange Jahre nicht mehr hatte. Vorbei sind die Tage, an denen sich das Feuilleton besorgt fragte, ob die Mario Barths der Szene, die locker ganze Fussballstadien füllen, komödiantisch an inhaltlicher Belangslosigkeit überhaupt noch zu unterbieten sind.
Jahrelang waren es die Klassenclowns aus der Schule, die gelangweilten Pöstler und Lehrer, denen der angestammte Beruf zu öde wurde und die ohnehin irgendwie «glatti Cheibe» waren, die sich irgendwann mal auf eine Bühne oder hinter einen Zeichenblock wagten, um das Publikum zu unterhalten. Doch innerhalb weniger Jahre ist Humor wieder zu etwas für wahre Helden geworden. Zu etwas, wofür man auch in Europa wieder angeklagt oder von Fanatikern totgeschossen werden kann, ganz wie die Helden der Pressefreiheit im 18.
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und 19. Jahrhundert, welche die heutigen Privilegien erkämpft hatten.
Das ist weniger zynisch gemeint, als es vielleicht daherkommt. Die klassischen Medien befinden sich in der Krise, ihre Glaubwürdigkeit wird - Stichwort Lügenpresse - von breiten Bevölkerungskreisen in Zweifel gezogen. So sehr, dass in Umfragen Satiresendungen wie «Die Anstalt» höhere Vertrauenswerte geniessen als seriöse News-Formate. Aus diesem Vertrauen erwächst aber auch Verantwortung. Wo man in vielen Konflikten und Kontroversen (Ostukraine, Syrien, Flüchtlingwelle) beim besten Willen Information und Desinformation nicht mehr auseinanderhalten kann, entfalten satirische Beiträge ungeahnte Wirkung, indem sie nicht nur unterhalten, sondern für viele als eigentliche Informations- sowie Kommentarquelle dienen.
Böhmermann ist mit seinem Schmähgedicht leider vom Torschützen zum «Tor des Monats» geworden. Obwohl er damit bestimmt anderes im Sinn hatte, bleibt vor allem das «Erdogan & Ziege»-Motiv, das von Dutzenden Klassenclowns aufgegriffen wurde, im trotzgigen Glauben, ausgerechnet damit die Satirefreiheit verteidigen zu müssen.