von Patrik Etschmayer / Quelle: news.ch / Montag, 2. August 2010 / 11:14 h
Viel faszinierender als alle Ansprachen ist aber das Konstrukt «Patriotismus» an sich. Patriotismus ist ganz klar eines der stärksten kulturellen Sentimente, die wir kennen. Kaum eine andere Sache kann Massen in einem solchen Masse mobilisieren und zu fantastischen, erhebenden oder grausigen Taten antreiben.
Dies ist umso erstaunlicher, als dass diese Emotion nicht einmal dreihundert Jahre alt und in der heute bekannten Form ein Kind der Aufklärung ist, dass erst durch die Französische Revolution richtig etabliert wurde: Viel besser als durch den Beginn der «Marseillaise» lässt sich diese Emotion denn auch kaum darstellen.
In der Schweiz wurde der Patriotismus gar erst nach dem Sonderbundskrieg und mit der Bundesverfassung von 1848 zum Teil des Alltags. Die Schweizer «Vaterlandsliebe» etablierte sich vor dem Hintergrund einer demokratisch-patriotischen Bewegung, die ganz Europa erschütterte, aber an den meisten Orten nieder geschlagen wurde.
Doch wie kann eine Sache, die erst vor 160 Jahren bei uns eingeführt wurde, Menschen emotional zum Teil völlig aus dem Häuschen bringen? Wie ist es möglich, dass Patriotismus Teile der Gesellschaft - und in manchen Ländern fast das ganze Volk – so durchdringen kann, dass es diesen nicht einmal möglich ist, Bewohner anderer Länder als gleichwertig zu betrachten? Zugegebenermassen ist dieses Phänomen in der Schweiz und in Europa nicht mehr so übel wie in vergangenen Zeiten des blanken Nationalismus, aber er lässt sich nicht weg diskutieren.
Doch die Frage bleibt, wie kann es dazu kommen, dass Millionen von Menschen zum abstrakten Konstrukt «Nation» eine geradezu irrationale Liebe verspüren und ausleben?
Die Suche nach den Gründen für diese aus stammesgeschichtlicher Sicht absurde Liebe zeigt vor allem, dass der Mensch ein Meister darin ist, wenn es darum geht, sein emotionales Leben den Gegebenheiten anzupassen. Denn Patriotismus und sein böser Zwilling, der Nationalismus sind nichts als ein erweitertes Familien- und Clan-Denken. Als in Europa noch lediglich Clans (sprich der Adel) das sagen hatten, konnte sich im Volk auch kein solches, auf das Land ausgedehntes Denken herausbilden: Der Zusammenhalt des Landes wurde durch obrigkeitlichen Zwang und Gewalt sicher gestellt – die Menschen kämpften in Kriegen für Geld und weil sie gezwungen wurden.
Die Aufklärung und französische Revolution mit ihren Gleichheitsgrundsätzen haben es erst möglich gemacht, dass das Clan-Denken nun auch im Volk eine Chance hatte, sich durchzusetzen und praktisch allen Bewohnern eines Landes eine emotionale Klammer gab, die ihnen einen Zusammenhalt im Kampf gegen die adlige Obrigkeit bot.
Die Tatsache, dass der Patriotismus vielfach von willkürlich gezogenen Grenzen bestimmt wird, macht ihn nicht schwächer, viel mehr ist es beeindruckend, wie ein künstlich erweitertes Familiengefühl über hunderte Kilometer hinweg, zwischen Menschen, die sich noch nie gesehen haben, funktionieren kann.
Es sind dabei geschichtliche Zufälle, die jene Grenzen gezogen haben, die das Zugehörigkeitsgefühl bestimmen, abstrakte Linien zum Teil durch keine geographischen Gegebenheiten, sondern historische Kuriositäten bestimmt.
Wenn im Moment die europäischen Idee durch allseits wachsenden Patriotismus zurück gedrängt wird, hat das verschiedene Gründe – aber vor allem liegt es an den Politikern, die es geschafft haben, aus dem Europa für das Volk, ein Europa der Obrigkeit zu machen, mit undurchsichtigen Strukturen, selbstherrlichen Funktionären und einer Verwaltung, die vor allem für sich selbst zu existieren scheint.
Sich mit einem solchen Europa emotional verbunden zu fühlen, ist fast nicht möglich. Das «familiäre», das Zusammengehörigkeitsgefühl fehlt. Und so archaisch und primitiv dies auch zu sein scheint, so wichtig ist es, um den archaischen, primitiven Menschen dazu zu bringen, etwas Neues zu umarmen und anzunehmen, so dass der Patriotismus irgendwann die Landesgrenzen zu sprengen vermag.