Roger Walch / Quelle: news.ch / Donnerstag, 8. September 2011 / 16:02 h
Der diesjährige 11. September steht weltweit im Zeichen der sich zum zehnten Mal jährenden Terroranschläge in den USA. In Japan jedoch ist der kommende Sonntag in den Kalendern der schnell wachsenden Gemeinde der Atomkraft-Gegner rot angestrichen. Sechs Monate sind seit der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 vergangen.
Landesweit sind grosse Demonstrationen angekündigt. Obwohl oder vielleicht gerade weil die Regierung in Tokyo nicht auf die Nuklearenergie verzichten will, hat die Anti-Atomkraft-Bewegung in Nippon enormen Zulauf erhalten. Man darf keine Revolution erwarten, doch sind viele Japanerinnen und Japaner aufgewacht und machen sich Sorgen. Immer mehr fordern den Ausstieg aus der Kernkraft und eine Hinwendung zu erneuerbaren Energien.
Unzufriedenheit
82,000 Leute sind aus der umittelbaren Umgebung des Atomkraftwerks in Fukushima evakuiert worden. Über 3800 durch den Tsunami obdachlos gewordene Personen müssen nach einem halben Jahr noch immer in einer der 147 noch existierenden Notunterkünfte ausharren. Die Betroffenen sind sich alle einig, dass die Regierung zu spät und zu langsam reagiert hat. Es fehlt nach wie vor an Wohncontainern und finanzieller Unterstützung, die Leute fühlen sich im Stich gelassen.
Ganz klar ist zu erkennen, dass das japanische Volk das Vertrauen in ihre Regierung verloren hat. Gemäss einer aktuelle Umfrage sind über 82% der befragten Japaner mit der aktuellen Politik unzufrieden. Vor allem die Informationsstrategie und die enge Verflechtung mit der Atom-Lobby wird kritisiert.
Spielen verboten
Ein Spielplatz in Minami Soma, einem Ort ausserhalb der Sperrzone. etwa 25 km vom havarierten AKW entfernt. Ein grosses Schild hängt an der gelben Rutschbahn: Gefahr! Spielen wegen Radioaktivität verboten! Allein in Minami Soma leben noch über 2400 Kinder. Sie dürfen nicht draussen spielen, müssen die Fenster immer geschlossen halten und gehen mit dem Dosimeter um den Hals zur Schule. Der kindliche Organismus ist anfälliger für Strahlungsfolgen. Die sich schnell teilenden Zellen können leichter als bei Erwachsenen geschädigt werden.
Die japanische Regierung hat bei 45 Prozent von über 1000 untersuchten Kindern ausserhalb des Sperrgebietes radioaktives Jod in den Schilddrüsen festgestellt, betont aber, dass es sich nicht um gesundheitsgefährdende Mengen handle. Eine Evakuation ist nicht vorgesehen. Dafür sollen die Kinder bis zu ihrem 20. Geburtstag jährlich medizinisch untersucht werden. Viele betroffene Familien sind verständlicherweise empört und wollen nicht als Versuchskaninchen herhalten.
In einem Restaurant unmittelbar neben der Strassensperre, also gerade mal 20 km von den Unglücksreaktoren entfernt, sitzen zwei Familien mit Kleinkindern. Auf die Frage, ob sie denn keine Angst vor der Radioaktivität hätten, kommt eine fatalistische Antwort: «Was sollen wir denn machen? Die Grosseltern sind bettlägrig und auf unsere Pflege angewiesen, wir haben hier unsere Arbeit. und die Kinder gehen hier in die Schule. Wir haben keine andere Wahl als hierzubleiben.» Wer ausserhalb der Sperrzone lebt, hat keinen Anspruch auf Entschädigung.
Lebensmittel-Skandale
Produkte, die mit dem vagen Label «aus inländischer Produktion» versehen sind, bleiben unangetastet.
Ein Spielplatz in Minami Soma: Spielen wegen Radioaktivität verboten! /


Man kauft Gemüse aus der Südinsel Kyushu, Milchprodukte und Getreide aus der Nordinsel Hokkaido und Fleisch aus dem Ausland. Von Fisch lässt man die Finger.
Vor einigen Wochen gelangte das Fleisch von etwa 700 Rindern, die mit radioaktivem Reisstroh aus Fukushima gefüttert worden waren, in den Verkauf. Ein nicht unbeträchtlicher Teil davon landete als Schulessen auf den Tellern von Kindern. Seit dem 11. März jagt ein Lebensmittelskandal den nächsten.
Der Grüntee ist bis nach Shizuoka - 200 km westlich von Tokyo - radioaktiv belastet. Obwohl Lebensmittel mit erhöhten Strahlenwerten aus Nordostjapan nicht verkauft werden dürfen. habe ich in Tokyo fliegende Händler beobachtet, die auf der Strasse spottbillig Früchte und Gemüse anbieten - natürlich ohne Herkunftsangabe
Verantwortungslose Evakuierungsmassnahmen
Die Regierung hat mit dem Zirkel einen Kreis um das AKW Fukushima gezogen und alle Leute aus der 20 km Zone evakuiert. Tatsache ist aber, dass sich die radioaktiven Partikel nicht konzentrisch bewegt haben. Abhängig von Wind und Topographie haben sie sich konzentriert in bestimmten Gebieten abgelagert. So findet man in Orten 60 oder 80 km nordwestlich vom Unglücksort entfernt zum Teil höhere Radioaktivität als in der Sperrzone.
Zurecht werden die japanischen Politiker für ihre Kurzsichtigkeit kritisiert. Die Evakuierung hätte aufgrund der tatsächlichen Verseuchungslage erfolgen sollen. Viele Menschen sind deshalb nach wie vor unnötig einer hohen Strahlenbelastung ausgesetzt.
Bürgerbewegungen
Viele Japanerinnen und Japaner schenken den beschwichtigenden Pressemitteilungen der Regierung keinen Glauben mehr. Enttäuscht nehmen sie die Dinge lieber selber in die Hand. In Fukushima haben Bürger ein unabhängiges Netzwerk von Messstationen aufgebaut. Sie publizieren die Daten im Internet oder versenden sie per Twitter. Dreimal täglich wird die Radioaktivität gemessen und die Datenbank aktualisiert. Die eingesetzten Geigerzähler und Dosimeter kommen dabei oft aus dem Ausland, weil sie in Japan seltsamerweise immer noch Mangelware sind.
Natürlich gilt die besondere Sorge der Bewohner um Fukushima den Lebensmitteln und dem Schutz der Kinder. So testet seit Ende August eine Nichtregierungsorganisation in Fukushima Esswaren auf radioaktive Belastung. Die professionellen Messgeräte haben sie vom französischen Strahlenforschungsinstitut CRIIRAD zur Verfügung gestellt bekommen. Auf einer Webpage kann man die Testresultate einsehen. Sie geben der Bevölkerung wichtige Hinweise im Bezug auf lokal produzierte Lebensmittel. Endlich weiss man, was unbedenklich genossen werden kann und wovor man sich hüten sollte.
Filmpremiere:
Roger Walch stellt am Sonntag, 11.9. um 15 Uhr im Cinema Kinok in St.Gallen seinen neuen Film «Children of Water» vor und berichtet anschliessend über die aktuelle Situation in Japan.
«Children of Water»
Nach einem einjährigen Englischkurs in den USA kehrt die japanische Grafikerin Mina nach Kyoto zurück und stellt fest, dass sie schwanger ist. Sie denkt an Abtreibung, doch ihr amerikanischer Freund Brad ist vehement dagegen. Er fliegt nach Japan, um Mina dazu zu bewegen, das Baby zu behalten. Während seines Aufenthaltes wird er nicht nur mit dem Alltagsleben und den Gebräuchen in Japan konfrontiert, sondern auch mit anderen Moralvorstellungen und religiösen Werten.