Regula Stämpfli / Quelle: news.ch / Dienstag, 20. März 2012 / 09:39 h
Die Autorin Ines Geipel gehört zu den mutigsten Frauen Europas. Sie wurde in Dresden geboren und vom damaligen Unrechtsregime mit Drogen vollgepumpt, um mit drei anderen Kolleginnen den immer noch nicht gebrochenen Weltrekord der vier mal Hundert Meter Staffel aufzustellen. Ines Geipel prozessierte gegen ihre damaligen Dopingfolterer und sie gewann. Sie flüchtete 1989 in den Westen, wo sie sich als Publizistin und Dozentin gegen die Dopingspirale im Spitzensport engagiert. Gleichzeitig engagiert sie sich mit ihrem Buch «Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens» in der Frage nach der Verantwortung der Gesellschaft in diesen unaussprechlichen Taten.
«Das ist ein Unheil, das vom Himmel gefallen ist» meinten 2002 die politisch Verantwortlichen zur Amoktat in Erfurt. Gegen solch entpolitiserte, verdummende Interpretationen gilt es sich überall zu wehren. Geipels Buch handelt von der Systemlogik, welche junge Amokläufer ihre Destruktionen ausleben lässt. Geipel hält nichts von der Dämonisierung der Täter, sondern plädiert für einen gesellschaftlichen Blick auf die Taten.
Während Theodor W. Adorno den autoritären Geist als Basis für den Aufstieg der Nationalsozialisten nachzeichnet, weist Ines Geipel in acht Punkten nach, welche Voraussetzungen Amokläufe fördern:
Erstens brutalisiert die enorme, schnelle und gewalttätige wirtschaftliche Veränderung der Gesellschaft einen Teil der männlichen Jugend. In diesem unaufhaltsamen Modus stehen oft die Amokläufe. Alle Täter stammen aus sogenannt guten, aber emotional unglaublich distanzierten und kalten Verhältnissen. Die Amoktäter kündigen ihre Taten akribisch an.
Amokläufer: Emotional isolierter Minderleister mit leichtem Zugang zu Waffen. /


Alle Täter sind aufflällig sprachlos. Alle Täter sind hochmotiviert und kompetent im Netz unterwegs. Alle Täter waren noch nie verliebt und sind weit davon entfernt, jemals verliebt zu sein. Alle Täter sind in der Nähe von Waffen aufgewachsen und kommen ohne Probleme und äussert einfach zu Waffen. Alle Täter sind zwar intelligent, aber schlecht in der Schule, sogenannte Minderleister. Alle Täter sehen sich selber als Looser und werden als selbige wahrgenommen.
Also. Es wäre wichtig, diese Gründe endlich nicht nur zu diskutieren, sondern auch Verhältnisse zu schaffen, welche mögliche künftige Amoktaten verhindern.
Unsere individualisierte und zunehmend den Einzelnen isolierende Gesellschaft ist sicher als einer der Hauptgründe zu nennen. Wie sonst ist es zu erklären, dass trotz vorheriger Ankündigungen vieler Täter sich anscheinend niemand ein Herz fasst und etwas unternimmt? Unsere Gesellschaft wird zunehmend wehklagender, NACHDEM ein Unglück passiert ist, und zunehmend apatisch gegenüber den Zeichen, die überdeutlich an der Wand zu lesen sind. Wobei die Wand heute vorwiegend das Internet ist und via Facebook und Foren teilweise sogar fasziniert zugeschaut wird, wie ein Mensch sich immer tiefer in eine Wahnwelt hineinschraubt. Bis zur Tat.
Am Ende ist die Tat dann die völlige Pervertierung von Andy Warhols 15 Minuten Berühmtheit. Was es braucht ist eine sich engagierende Gesellschaft, die ihre Mitglieder sieht und ihnen zuhört, sie sehen lässt und sie auch sprechen lässt. Genau diese Anerkennung wird mittlerweile vielen jungen Menschen, vor allem auch jungen Männern, verwehrt. Mit Adorno stellen wir fest, dass ein würdiges Menschenleben auch würdige gesellschaftliche Rahmenbedingungen braucht.