Regula Stämpfli / Quelle: news.ch / Mittwoch, 25. Mai 2016 / 11:40 h
Eine halbe Million Menschen, die grösste dokumentierte Menschenmenge der Geschichte, versammelte sich 1908 im Hyde Park. Auf zehn Rednerplattformen, die im Park errichtet worden waren, sprachen Aktivistinnen und Aktivisten zum Publikum. Alles war very british, sehr zivilisiert und trotzdem: Die meisten der 500 000 Anwesenden sprachen sich für etwas aus, das den meisten Menschen wie eine Revolution erschien: Es ging um die Forderung des Stimmrechts für Frauen.
Seit den 1890er Jahren setzten sich die «Suffragetten» in Grossbritannien vehement, mit grosser politischer Arbeit, mit unermüdlichem Einsatz und Protestmärschen für die Bürgerwerdung der Frauen ein. Dreiviertel der unverheirateten Frauen waren in vielen Gegenden voll in der Textilindustrie tätig. Diese «Spinnerinnen» waren unabhängig in Geist und Geld. Ihnen war auch die Radikalisierung in der Stimmrechtsfrage zu verdanken. Sie waren mit Fug und Recht ungeduldig, empört über die soziale und politische Lage - so konnten locker ein paar Steine durch die protzigen Geschäftshäuser an der Oxford Street fliegen.
Doch dann zeigte sich der in den Medien so gerühmte freie und liberale Staat äusserst brutal. Die Frauen wurden ins Gefängnis geworfen. Als einige in einen Hungerstreik traten, wurden sie zwangsernährt und zwar auf so unglaublich brutale Art und Weise, dass den Journalisten echt einer abging, als sie die Bilder zwecks Delektieren der dekadenten britischen Oberschicht veröffentlichten. Die Presse war schon damals mehr Mittäter statt Kontrolleur herrschender Gewalt. Den festgeknebelten Frauen wurde ein Gummischlauch durch die Nase direkt in den Magen gerammte. Die qualvolle, zwei Stunden dauernde Prozedur kostete zwei Frauen beinahe das Leben, weil der Brei nicht in den Magen, sondern in ihre Lungen gepumpt wurden.
Fast nichts hat sich geändert.
Frauenrechtlerin Ada Wright in London, 1910: Alles könnte anders sein, aber nichts ändert sich. /


Höchstens die Schauplätze. Doch wehren sich Frauen für ihre Rechte, werden sie zuerst belächelt, dann irritiert beobachtet und dann geschlagen, gefoltert, getötet. Die Autorin der Erklärung der Frauen- und Menschenrechte 1791 (!) landete auf der Guillotine, die erste Juristin Europas, Emilie Kempin-Spyri, im Irrenhaus. Die grösste politische Philosophin des 20. Jahrhunderts, Hannah Arendt, wäre fast in den deutschen Konzentrationslagern vergast worden.
Und die grösste Denkerin des 21. Jahrhunderts? Verdient ihr Geld mit dem Redigieren von Texten. Die revolutionäre Klimaforscherin? Stirbt mit 26 Jahren in der Textilfabrik von Bangladesh. Die Erfinderin des Malaria-Impfstoffes? Ist an der Hungersnot 2016 im Alter von 9 Jahren gestorben. Die Autorin der globalen Friedensverfassung? Lebt noch, versucht hingegen zunächst zu seelischen und physischen Kräften zu kommen, da die Vergewaltigung ihr leider immer noch viel zu präsent ist.
Gleichzeitig tummeln sich in Europa und der Schweiz, Bilder, Statements, Diskussionen von Frauen und Männern, die sich vor allem nach der «guten, alten Zeit» sehnen. Einer Zeit, wo Mutti die Schläge von Vati noch als Liebesbeweis sah, über kein eigenes Bankkonto verfügte und nach einer Scheidung in Schmach, Schande und Armut ihre Kinder aufzog. Ach, verstehen Sie denn auch nicht die Ängste der Männer von 2016, die sich von der Gleichberechtigung bedroht fühlen und deshalb eine Figur wie Hofer in Österreich, oder Orban in Ungarn, Erdogan in der Türkei oder Kaczynski in Polen wählen?
Ja, klar doch. Die Pressemeute, die Intellektuellen, die Kommentatoren verstehen diese Menschen, respektive beschäftigen sich eingehend mit deren Haltungen: Unter Jungs lässt sich gut streiten, nicht wahr? Irgendwas muss doch an Hofer et al. richtig sein, wenn so viele Männer ihn wählen? So viele Männer können sich doch nicht irren, nicht wahr? Man muss sie ernst nehmen, ihnen zuhören, sie verstehen, ihnen Plattformen geben, ein Heer von Wissenschaftlern anstellen, um ihnen nahe zu kommen, nicht wahr? Auch die Stahlfrauen mit Titten aus Zement, die ihre eigene Unbarmherzigkeit am eigenen Geschlecht durchziehen wollen, die jede Mitfrau, die auch nur einen Hauch von Freiheit zeigt, mit erbarmungsloser Härte, Diffamierungen, Unterstellungen verfolgt, auch die müssen verstanden, interviewt, porträrtiert und gefördert werden. Denn schliesslich verkörpern sie einen ganz anderen Feminismus als...
...als wer eigentlich? Ach ja! Als all die Menschen, die für Freiheit, Gleichheit und Solidarität ihr Leben hergeben.
108 Jahre nach dem grössten Aufmarsch aller bisher gewesenen Zeiten ist klar: Alles könnte anders sein, aber nichts ändert sich.