Regula Stämpfli / Quelle: news.ch / Mittwoch, 23. Mai 2012 / 10:45 h
Der anwesende Arzt Christian Kind sagte schnell, was aus der Sicht der auf Maschine und nicht Mensch konzentrierten Medizin, Sache ist: Es handelt sich bei Zwittern um eine Störung der Normalität. Herr Dr. Kind ging soweit, sich als Brillenträger mit Zwittern zu vergleichen, indem er seine Augenstörung auf die Stufe der «Störung» der Geschlechtsmerkmalen setzte.
Diese Unterscheidungslosigkeit und fehlende Urteilskraft passt in die herrschende Gesundheitsideologie und mechanistische Ethik. Dass ein Arzt die Zuhilfnahme seiner Brille mit der Umwandlung und Zuordnung eines bestimmten Geschlechts vergleicht und nur von den Betroffenen etwas in die Schranken verwiesen wird, ist symptomatisch für unsere Gesellschaft.
Die Norm, das «sich verhalten», das Einordenbare ist zum Diktat für menschliche Identität geworden.
Die Unterschiedlichkeit von Menschen, welche die verschiedensten «Störungen» aufweisen, wird anhand eines Mittelmasses mehr und mehr von der Medizin auszurotten versucht. «Vom Aussterben bedroht» titelte das Magazin der Süddeutschen schon 2006 in einem Bericht über Menschen mit Down Syndrom. Die schon fast totalitär agierende Gesundheitsreligion verfolgt sogenannte Fehlentwicklungen von Menschen mit äusserster Präzision, medizinischer Intervention und oft grausamster Praxis. Die betroffenen Eltern, die betroffenen Menschen werden einer ethisch gerechtfertigten Skalpelllogik unterworfen, an welcher sie ihr Leben lang leiden, oder welche sie ein ganzes Leben lang begleitet.
Was die anwesenden transsexuellen Menschen über ihren medizinischen Leidensweg erzählten, trieb einem die Tränen in die unbebrillten Augen. Da wird ein völlig gesunder Mensch, dessen einziges Problem darin besteht, physisch sowohl Frau als auch Mann zu sein, in ein Korsett der Eingeschlechtlichkeit gezwungen. Da werden an den einzelnen Menschen ideologische Konzepte direkt an deren Körper vollzogen.
Zweigeschlechtlichkeit ist in unserer auf Kategorien fixierte Warengesellschaft nicht vorgesehen, also wird sie möglichst von klein auf aus der Welt geschnitten und geredet. Die Sprachlosigkeit verstärkt das Leiden zusätzlich.
Skalpell statt Akzeptanz: Der Umgang der Gesellschaft mit Intersexualität /


Doch glücklicherweise melden sich immer mehr Menschen zu Wort, die sich gegen die auf Körperfixierung definierten Medizin-Menschen wehren.
Die Transsexualität zeigt die Schattenseiten, die nicht-diskutierten Perversion einer hochentwickelten Medizin, die zugegebenermassen auch die Freiheit und Unterschiedlichkeit von Menschen im Falle einer Behinderung, der Krankheit und des nahenden Todes erweitert hat. Alles hat Vor- und Nachteile, doch im Fall der Halbgötter in Weiss im Verbund mit den feudalistischen Pharmakapitalisten werden kaum die unmenschlichen Nachteile diskutiert.
Das Geschwätz des sozialen Drucks ist medien- und medizingemacht. Im konkreten Umkreis verstehen Menschen immer mehr als uns vorgeschrieben wird. Menschen müssen nicht sozial operiert werden. Doch selbst hier stieg die Philosophin Bernasconi aus. Sie versuchte mit grosser Intensität der Mutter eines transsexuellen Kindes einzureden, dass Zwitter ein riesiges gesellschaftliches Problem seien, weil unsere Gesellschaft wissen müsse, ob sie ein Mädchen oder einen Jungen vor sich hat.
Einmal mehr zeigte sich, was wir schon öfters festgestellt haben: Die echten, wirklichen, betroffenen Menschen argumentieren als Menschen, während die sogenannten Experten im Laufe ihres Studiums und ihrer Tätigkeit oft vergessen haben, was sie auch sein könnten: Nämlich nicht in erster Linie die Verteidiger der herrschenden Machtstrukturen. Sie alle könnten Menschen sein, welche à la Humboldt mit Fähigkeiten und Talenten die Gesellschaft und die darin lebenden Menschen beschenken.
Dies tun aber die sogenannten Experten je länger je weniger: «In einem System der Blindspirale werden Menschen blind für wichtige Zusammenhänge, welche die menschliche Freiheit, Urteilskraft, den geschärften Blick sowie das Verständnis für die Demokratie als Kommunikations-, Aushandlungs- und Verhandlungsort fördern. Sie werden - dies nur so nebenbei - auch blind für alle menschlichen Ausdrucksformen, die sich jenseits der herrschenden Geschlechterdichotomie (Zweiteilung) manifestieren» lautete mein Befund schon 2007. Anders gesagt: «Der Mensch ist frei geboren und liegt doch überall in Ketten» (Rousseau) oder noch einfacher: Das Menschsein ist nicht in den Genitalien definiert.
Literatur:
Regula Stämpfli: Die Macht des richtigen Friseurs: über Bilder, Medien und Frauen. Bartleby, Brüssel 2008
Jeffrey Eugenides: Middlesex. Aus dem Amerikanischen von Cornelia C. Walter und Eike Schönfeld. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 200