Patrik Etschmayer / Quelle: news.ch / Mittwoch, 19. Juni 2013 / 11:46 h
Dazu hilft es wohl, selbst eine Antiquität zu sein - wie zum Beispiel der Autor. Auch wenn er um die zehn Jahre jünger ist als viele jener, die nun an den Hebeln der Macht sitzen, so waren die siebziger und achtziger Jahre praktisch identisch mit den sechzigern, was die Wahrnehmung der Welt angeht. Als dann, 1989, die Welt wie sie seit 40 Jahren gewesen war, zerbrach, erschien dies für manche als gigantische Chance eines Neuanfangs. Für ungleich viele mehr - wie jene, die schon eine politische Karriere in der Erstarrung begonnen hatten - war der damalige Umbruch jedoch eine Bedrohung sondergleichen und der Verlust der geistigen Heimat.
Karrierepläne, fest definierte Weltbilder, ideologisch solide gerahmt, krachten auf den Boden einer neuen Realität und zersplitterten. Nun hätte dieser alte Schrott einfach mit dem Besen der Geschichte in den Müll gekehrt werden können. Doch so schnell ist Beton nicht aus den Köpfen zu wischen. Nein. Das Sehnen nach einer statischen, einer berechenbaren Welt ist immer noch in den Köpfen der Mächtigen vorhanden.
Räumung Taskim-Platz Istanbul: Öffentlicher Raum gegen Einkaufszentrum, gewünscht vom Sultan. /


Nicht nur, weil dies für jene an der Macht praktisch ist, sondern auch, weil sie in dieser Welt aufgewachsen sind, weil sie diese kennen.
So suchen sie denn seit Jahrzehnten nach verbündeten Betonierern und haben diese in den Grosskonzernen, vor allem der Finanzindustrie, gefunden, welche es immer wieder schaffen, ihre Interessen mit jenen der Regierungen zu koordinieren: Sei es beim Schönfärben von Schuldenzahlen, oder beim anschliessenden Einkassieren der Zinsen und Kredite, wenn es daran geht, Länder zu Grunde zu sanieren und im Vorbeigehen Bürgerrechte, Staatsleistungen und -dienste auf den Stand von 1950 zurückzuschrauben.
Und trotzdem - oder eher: gerade deshalb - wird weiter aufbegehrt. Denn die Nostalgiker auf den Präsidentensesseln leben in einer anderen Welt als viele jener, die sie regieren wollen. Während sie sich nach dem stabilen Weltbild ihrer Jugend sehnen, wo es klare Freunde und Feinde gab, wo gut und böse per ideologischem Dekret vorgegeben waren und jede Berichterstattung in den Medien - sei es auch nur unterbewusst - auf dieser Basis stattfand, kennen all jene, die nach 1980 auf die Welt gekommen sind, so eine Welt höchstens noch aus Erzählungen und Geschichtsbüchern.
Spätestens seit 1989 ist die Welt im Fluss und wie die Welt in einem Jahr aussehen wird, lässt sich nicht wirklich sagen. Wer hätte sich hier nur schon vor 6 Monaten gedacht, dass Erdogan seine Maske als «vernünftiger Islamist» fallen lassen und einer mehr oder weniger verblüfften Welt den Hassprediger mit Sultankomplex präsentieren würde, weil er Widerstand beim Vernichten von öffentlichem Raum zu Gunsten eines Einkaufszentrums erleben würde? Wer hätte sich vorstellen können, dass ausgerechnet die Brasilianer gegen die kommende Fussball-WM und die damit einhergehende Korruption (surprise!!) auf die Strasse gehen würden? Auf jeden Fall nicht jene, die eben am G-8 Gipfel jede Menge heisse Luft produziert haben.
Denn nicht nur ist die Welt eine geworden, die sich schnell stark verändert. Dank den «neuen» sozialen Medien ist es auch möglich geworden, mit minimalem finanziellem und zeitlichem Aufwand gesellschaftlich relevante Inhalte zu verbreiten und Bewegungen in Gang zu setzen, die sich - wenn überhaupt - nur mit enormem Aufwand, wie vor allem in China, kontrollieren lassen und es selbst dann immer wieder schaffen, aus den Klauen der Überwacher zu gleiten. Und jene, die protestieren, kennen nichts anderes mehr als den konstanten Wandel, und sie wollen dabei nicht nur gewandelt werden, sondern haben den unerhörten Anspruch, ihr Leben selbst mitgestalten zu wollen, obwohl sie von den Mächtigen nur als Dispositionsmasse und Stimmvieh behandelt werden.
Das Ironische dabei ist wohl, dass die von ihnen verwendeten, «subversiven» Anwendungen auf jenen Datennetzwerken laufen, die ursprünglich - und auch jetzt noch - zur Machterhaltung und als Triebmittel der Wirtschaft gedacht waren und sind, und deshalb nicht einfach so abgeschaltet werden können, wenn es einem Machthaber beliebt.
Dabei wäre heute eine neue Verständigung möglich, eine Verflachung der Machtgefüge, eine Integration durch Kommunikation, eine Demokratisierung von Grund auf. Doch das widerspricht dem Weltbild der Mächtigen, jenem Bild, das sie, die ihre Karrieren in der betonstarren Welt des Kalten Krieges begonnen haben, in der alles sauber aufgeteilt in Gut und Böse, oben und unten war, und die Kommunikationskanäle den Regierungen gehörten, verinnerlicht haben. Es widerspricht ihrem Selbstverständnis und ihrem Glauben an die Legitimation ihrer Macht durch ein fernes Volk, das man einmal alle vier Jahre oder so befragt.
Die derzeitigen Volksbewegungen, von Occupy über Taksim-Platz bis Maracana-Stadion sind der sichtbare Beweis, dass die Welt von 1988 nicht mehr existiert. Es wäre schön zu sehen, dass diese Realität auch in den Köpfen der Mächtigen angekommen ist. Ansonsten sollten sie zugeben, dass China ihr neues Ideal ist, wenn es um Volksrechte geht, denn dort wird so regiert, dass auch die Nostalgiker an der Macht noch damit etwas anfangen können.