Reta Caspar / Quelle: news.ch / Donnerstag, 12. Juni 2014 / 09:07 h
Fussball macht deutlich, dass es im Zusammenspiel der Menschen darum geht, dass jeder sein Ziel erreichen können soll, ohne die anderen zu verletzen oder unfair auszuschalten. Dazu gehört, dass die beiden Teams der internen Arbeitsteilung und Gruppenregeln unterworfen sind, die vom Chefstrategen bestimmt werden. Es gibt Menschen, die sich während eines Fussballspiels in Rage oder Verzückung steigern und andere, die sich in ihrer Ekstase eins fühlen mit wildfremden Menschen, zu denen sie im Alltag lieber genügend Abstand herstellen. Das alles hat Fussball mit Religion gemeinsam. Unbestritten ist jedoch, dass Fussballregeln nicht vom Himmel fallen, sondern von Menschen gemacht und durchgesetzt werden, in den Religionen wird hier traditionell auf die höhere Autorität von Göttern rekurriert.
Die WM ist - wie die Wallfahrt, das Popkonzert, der Kirchentag, die Hadsch nach Mekka und Fastnacht - ein Massenanlass, der gesellschaftlich erlaubte Ausnahmezustand, der die Normalität garantiert. Einmal ausgesungen und ausgebetet oder eben ausgefussballt, gehen alle wieder ihrer Arbeit nach.
Fussball-Fans bei WM-«Messe»: Ersatzreligion auf dem grünen Rasen? /


Aber nach der WM ist auch immer vor der WM, d.h. mit dem nächsten Köder vor den Augen lebt es sich leichter, kann man sich rausträumen aus den Zumutungen des Alltags.
Beim Anblick von fussball- oder religions- oder fastnachtsbegeisterten Menschenmassen kommen mir Bilder aus der Tierwelt in den Sinn: die Versammlung von Tieren zur Paarungszeit - ob Pinguine, Rabenvögel oder Kröten - immer geht es darum, durch grosse Auswahl möglichst viele neue Paarungen herbeizuführen. Eine Choreographien der Evolution sozusagen mit dem Zweck, die alltäglichen Gruppen und die Einzelgänger durchzumischen und deren Gene neu zu kombinieren.
Als Tiere mit einem unterbeschäftigten Hirn haben die Menschen diesen evolutionären Mustern Geschichten angedichtet, haben phantastische Mythen gesponnen, welche das ausgelassene Treiben begründen und rechtfertigen, aber auch begrenzen. Dazu eignen sich nicht nur Götter, sondern auch säkulare Begriffe wie die «Völkerverständigung». Wobei ich letztere bevorzuge, weil sie nicht abgrenzend wirken, obwohl die Strukturen einer FIFA leider genauso korrupt sind, wie jene des Vatikans und anderer Gottesstaaten.
Als junge Frau habe ich mich oft gefragt, wie wohl unsere Welt aussehen würde, wenn all dieser Enthusiasmus, den wir in den Stadien und und Public Viewings sehen, nicht einem Ballspiel gelten würde, sondern in die Verbesserung der Welt fliessen ... heute denke ich, dass es das evolutionäre Programm ist, das die Menschen in diesen emotionalisierten Massen zusammentreibt. Wenn es dabei so friedlich zu und hergeht, wie bei einer WM, dann soll mir der ganze Aufwand dafür Recht sein.
Wenn Fussballfans Kinder vor Schaden verschonen und ihr soziales Engagement nicht ganz vergessen, sondern für jedes Spektakel einen Obolus für die Benachteiligten entrichten, bin ich sogar mit dabei: Feiern wir also Fussball, paaren wir uns fröhlich und völkerverbindend und spenden wir via Social Pay-Per-View an Terre des Hommes für Jugendprojekte in Brasilien - jeder Franken zählt!