Regula Stämpfli / Quelle: news.ch / Mittwoch, 16. Juli 2014 / 13:09 h
Heute stellt Juncker den Regierungschefs sein Programm vor und seine Ideen, wie der Filz in Brüssel neu verteilt werden soll. Junge, Frauen, Linke, Engagierte, Intellektuelle, Hofnarren, Nachhaltigkeitsmenschen und wirkliche Europäer sind in Brüssel wieder nicht vorgesehen. Fairerweise muss man sagen: Sie sind es seit einigen Jahren schon nicht mehr.
Jean-Claude Juncker ist ein alter Politikfuchs. Er wurde schon mit den unterschiedlichsten Titeln beschrieben: «Mann der Hintertreppe», «Mann ohne Eigenschaften», ein «Jäger wider Willen» (siehe Quellen in Wikipedia). Die Süddeutsche Zeitung von heute schreibt in ihrem Kommentar zur Jungfrauen-Juncker-Wahl (es war das erste Mal, das das Europäische Parlament «Spitzenkandidaten» lancierte): «Neustart des Altmeisters.» Die linke TAZ ist forscher: «Steuerdieb regiert Europa.»
Die Geschichtslosigkeit ist das auffälligste Merkmal des Neoliberalismus. Sie verbindet sich mit abstrakten ökonomischen Theorien und schaltet dann jegliche politische Urteilskraft im öffentlichen Diskurs aus. Schon während des Europawahlkampfes war zu beobachten, das es keine demokratischen und bürgerlichen Wahlen mehr gibt. Die öffentlich-rechtlichen Medien Europas machten ohne kritische Stimmen auf dem Discount-Marktplatz ausverkaufbarer Ideen mit. Die Parteilisten der grossen europäischen Länder belegten zudem die Mut- und Ideenlosigkeit. Der Wahlkampf 2014 entsprach der Inszenierung: «Das Gemeinwohl und seine Feinde.» Hier spielen die Sozialdemokraten Europas eine besonders bittere Rolle. Doch achselzuckend machen sie postenbewusst weiter.
Die Wahl Junckers durch die Sozialdemokraten, denen ihre Ämter offenbar wichtiger sind als die Themen, für welche sie gewählt wurden, ist ein europäisches Schauerstück. Es beweist die Alternativlosigkeits-Epidemie im anti-europäischen Denken.
Hintertreppenmann ohne Eigenschaften oder Neu startender Altmeister: Neu-Kommissionspräsident Juncker. /


Es ist als würden wir alle geschichts- und zukunftslos an den Baum des Augenblicks gebunden in einer generationslosen Welt, in welcher hochgepumpte Pharma-Alte jede Lebendigkeit ersticken. Schauen Sie sich in den europäischen Institutionen mal genauer um: Sie werden allein rein äusserlich keinen Unterschied zwischen den Europäern erkennen. Alle sehen aus wie die us-amerikanischen Banker der Wallstreet. Es sind die dunkelbestofften Uniformträger, die mit ihrer zynischen Schacherpolitik unsere Zukunft mit Bolognasauce angereichert, verkaufen.
Es ist als würde die EU eingefroren auf einen ahistorischen, seltsam nationalistisch befeuerten Kurs im Dienste der USA. Juncker befürwortet das Ermächtigungsgesetz Obamas namens TTIP - das Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU. Juncker trocknete über die Jahrzehnte mit seiner ganz privaten Steueroase Luxemburg jede vernünftige europäische Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik aus. Juncker ist in Talkshows der nette soziale Marktwirtschaftler, der, kaum sind die Kameras weg, neue Privatisierungsprogramme diktiert. Juncker gibt der Profitgier chinesischer und US-
amerikanischer Raubverträge jeden Raum, ja er putzt höchstpersönlich die Tagesordnung mit dem Programm der Chicago-Boys.
Das Gegenprogramm zu Brüssel, der Juncker-Kommission, ja der Europäischen Union ist paradoxerweise nicht
mehr
Europa, sondern
weniger
. Es lebe der Nationalismus, der Regionalismus, die eingespielten Modalitäten, die Moral, die klassische Bildung, die Verantwortung der mittleren und kleineren Betriebe, die Innovationskraft sur place, die unbeirrte Gemeinschafts- und Dörflimentalität, der Werte-Konservatismus mehrerer Nachkriegsgenerationen, die sich nicht als lebendige Münze für die Interessen der Grosskonzerne aus China, den USA und der EU verkaufen lassen wollen. Wer mehr Europa will, muss seit einigen Jahren gegen Brüssel politisieren.
Wer jetzt nicht merkt, wie unglücklich die europäische Situation ist, wenn Menschen mit Werten wie Humanität, Nachhaltigkeit, vernünftiger Energiepolitik, Sozialstaat, Leistungsprinzip, klassischer Bildung ausgerechnet der fremdenfeindlichen, rassismusaffinen und die Humanität grundsätzlich verachtenden Marie Le Pen dankbar sein müssen, weil sie mit all ihrer Verkehrtheit trotzdem eine der wenig funktionierenden Bastionen gegen die Brüssel-Übernahme von uns allen durch multinationale Interessen mit der EU-Kommission als Speerspitze darstellt, dem ist nicht mehr zu helfen.
Der zauberhafte Stefan Zweig beschrieb in «Die Welt von Gestern» den Untergang all dessen, wofür engagierte Menschen seit der Französischen Revolution leidenschaftlich lebten. Die Wahl Junckers zum Komissionspräsidenten erinnert an Zweigs Diktum: «Europa auf der Flucht vor sich selbst.»