Bernard Challandes musste nach den 90 schwierigen Minuten im Stade Vélodrome zunächst mal Dampf ablassen. Er begann seine Analyse vom Spiel mit Gratulationen an den Gegner, was bereits erahnen liess, dass die Fortsetzung weit weniger freundlich ausfallen würde.
In erster Linie bekam der schottische Schiedsrichter Craig Thomson sein Fett ab: «Die ersten beiden Treffer sind klar, ganz klar Abseits. Wenn die Entscheide zum Nachteil von Marseille gewesen wären, hätte der Schiedsrichter um sein Leben fürchten müssen. Das war eine inakzeptable Leistung.»
Und der Romand schloss seine als Analyse getarnte Tirade mit den Worten: «Zu viel lief gegen uns. Wir sind halt die Kleinen.»
Der FCZ-Coach hatte recht, zumindest was den Treffer zum 2:0 anging, der irregulär war. Er durfte sich auch beklagen, dass vieles gegen seine Mannschaft gelaufen war. Die Oberschenkelverletzung von Johan Vonlanthen nach acht Minuten gehörte dazu. Zudem zogen sich auch Alexandre Alphonse, Philipp Koch und Silvan Aegerter Verletzungen zu.
Exploit in Mailand als Handicap?
Es stimmt auch, dass der Schweizer Meister zwischen dem Hinspiel gegen Marseille und dem Auftritt vom Dienstag drei Partien bestreiten musste, derweil der Gegner nur einmal im Einsatz stand. Doch reicht dies, um eine 1:6-Niederlage zu erklären, gegen eine Mannschaft, die letztmals vor 16 Jahren im Europacup so hoch gewonnen hatte?
Einige FCZ-Exponenten, nicht nur Challandes, verloren sich in Selbstmitleid, sahen sich ungerecht behandelt und verloren dadurch den Blick fürs Wesentliche: Der FCZ war schlicht und einfach nicht auf der Höhe des Geschehens. Er war zu oft unkonzentriert, technisch schwach und zum Ende auch noch naiv. Klar, beim Schlusspfiff standen drei Spieler auf dem Feld, die jünger als 20 Jahre alt sind.
«Marseille hat eine viel erfahrenere Mannschaft. Das darf man nicht vergessen», erinnerte Challandes zu Recht. Doch an dieser Stelle darf auch angemerkt werden, dass sich der Schweizer Meister derzeit -- aus welchem Grund auch immer -- den Luxus leistet, Almen Abdi, seinen wahrscheinlich besten Spieler der letzten Saison, mit der Reserve auflaufen zu lassen.
Viele Probleme für Challandes
Vieles läuft im FC Zürich derzeit falsch und das Unangenehme für Challandes und Co.
Es war zum Verzweifeln... /

Für den FCZ gab es gestern nichts zum Jubeln. (Bild: Milan Gajic/FCZ) /


ist, dass es beinahe in jeder Partie ein anderes Problem ist, dass die Zürcher plagt. Sie sind -- vielleicht durch die Doppelbelastung -- aus dem Tritt geraten und befinden sich in einer Art Teufelskreis. Die Bewältigung eines Problems offenbart zwei neue.
Womöglich hat der Exploit in Mailand zu dieser Situation beigetragen. Die Erwartungen stiegen, das Rechnen begann, die Unbeschwertheit und damit der einzige Vorteil, den der FCZ gegenüber seinen Gruppengegnern hatte, ging verloren und in einigen Spielerköpfen lag der Fokus wohl zu stark auf der Champions League.
Die zahlreichen englischen Wochen lassen wenig Zeit zur Analyse. Bereits am Wochenende folgt für den FC Zürich in der Axpo Super League das Duell gegen Luzern. Und weil die Zürcher auch in der Meisterschaft im Hintertreffen sind, kommt jeder Begegnung auserordentliche Bedeutung zu.
Mentale Doppelbelastung vorbei
«Wir müssen aufpassen, dass wir uns jetzt nicht selbst zerfleischen», warnte Fredy Bickel. «Es ist eine gefährliche Zeit.» Obwohl nach der Kanterniederlage in Marseille sichtlich niedergeschlagen, widerstand der Sportchef der Versuchung, die Niederlage äusseren Umständen zuzuschreiben. «Es ist zu einfach, die Schuld dem Schiedsrichter zu geben. Wenn es nicht läuft, kommen solche Dinge halt dazu.»
Vielleicht wird es für den FCZ nun einfacher. Zumindest die mentale Doppelbelastung ist vorbei. Als die Frage zu den Chancen auf ein Überwintern im Europacup aufkam, überlegte Alexandre Alphonse kurz und winkte resigniert ab. Die letzten zwei Champions-League-Spiele sind nur noch Galaauftritte. Um Marseille noch zu überholen, müssten die Zürcher in Madrid und daheim gegen Milan mindestens vier Punkte holen.
Dass dies gelingt, kann niemand ernsthaft glauben. Für das sensible Ensemble gilt es nun, die Tabellen und die Taschenrechner auf die Seite zu legen. Gut möglich, dass dann die Kreativität, die Spielfreude, die Konzentration und die Effizienz sich wieder einmal gleichzeitig zeigen.