von Patrik Etschmayer / Quelle: news.ch / Montag, 8. März 2010 / 11:06 h
Es gibt Dinge, von denen viele Leute glauben, es habe sie schon immer gegeben, von denen irgendwie gedacht wird, sie seien nie erfunden worden. Bei manchen stimmt es ja auch: Gravitation und Luftwiderstand zum Beispiel. Bei anderen ist dies weniger der Fall – so auch beim Ruhestand, der auch als Rentnerleben und Pensionistendasein bekannt ist.
Dabei existierten in Europa vor 125 Jahren für die alten, die sich nicht auf ihre Familie verlassen konnten, bestenfalls Armenhäuser und Altenheime von Gemeinden und Städten oder wohltätigen Organisationen. Zum Teil leisteten auch Firmen freiwillig Rentenzahlungen an ihre pensionierten Arbeiter. Aber das Alter war generell eine Zeit der Angst vor Armut und Hunger.
Unterdessen haben wir hohe Ansprüche an unser Leben nach der Arbeitszeit entwickelt. Die «Existenz» reicht nicht mehr und wer will es einem verdenken. Doch die steigende Lebenserwartung könnte diesem Anspruch einen Strich durch die Rechnung machen. Dies war auch das Argument von Parlament und Bundesrat, als es darum ging, über die Kürzung der eigenen Renten zu entscheiden.
Aber es war die denkbar falsche Frage zur falschen Zeit, denn die Argumente der Initianten fanden bei den Wählern sehr offene Ohren. Die demographische Realität hingegen nicht. Sind die Schweizer also dumm? Sind wir zu drei Vierteln mathematische Analphabeten? Oder herrscht einfach das Gefühl, dass der Umwandlungssatz vor allem gekürzt werden sollte, um die Kassen der Versicherungen und Banken, die ein sicheres Geschäft mit den Zwangseinlagen haben, noch besser zu füllen?
Sogar im Gespräch mit Leuten aus der Versicherungsbranche, die ihre Namen nicht genannt haben wollen (aus verständlichen Gründen), kam zum Ausdruck, dass die BVG ein Riesengeschäft sei, an dem viele Leute sehr gut verdienten. Die Tatsache, dass gut 10% der gigantischen Beitragssumme für die Verwaltung draufgeht, ist für die einen ein Beweis für die Effizienz des Systems, für viele allerdings genau das Gegenteil: handelt es sich doch um Prämien, für die kaum Marketing- oder Inkasso-Massnahmen anfallen, es sei ein bestelltes Feld, das einfach abgeerntet werden könne.
Zudem hat in den letzten Jahren ein bestimmtes Gefühl gegenüber der Finanzbranche Besitz von der öffentlichen Meinung genommen: blankes Misstrauen. Jene Kreise, die einem die momentane Krise eingebrockt haben, wollen sich jetzt ausgerechnet auch noch aus dem Rententopf bedienen!
Vor diesem Hintergrund wird das wuchtige «Nein» des Schweizer Stimmbürgers verständlich, doch die Tatsachen bleiben sich gleich. Die Chancen, dass Sie, geschätzte Leser, 85 oder gar 90 Jahre alt werden, sind gut. Schon jetzt sind viele Neu-Rentner körperlich und mental besser in Form als dies ältere Berufstätige vor wenigen Jahrzehnten waren. Aus wenigen Jahren des Ruhestandes vor dem Dahinscheiden sind unterdessen Jahrzehnte geworden.
Schon seit langer Zeit befindet sich unsere Gesellschaft in einem Umbruch. Immer weniger Berufstätigen stehen immer mehr Rentner gegenüber und einer annähernd gleich bleibenden Lebens-Arbeitszeit ein immer längerer Rentenbezug.
Diese beiden Faktoren zusammen lassen sich nicht schönreden, wegrechnen oder unter einen auch noch so grossen Teppich kehren... sie sind Fakt und wenn wir die Erfindung «Ruhestand» retten wollen, sind neue Ideen dringend nötig.
Dabei sollten nicht nur Rentenkürzungen in Betracht gezogen werden oder die – eigentlich sehr vernünftige aber sowohl bei Arbeitern als auch Unternehmen unbeliebte – Erhöhung des Rentenalters. Unsere Gesellschaft sollte zum Beispiel von den Fähigkeiten älterer Menschen profitieren können und diese dabei unterstützen, nach dem Eintritt ins Rentenalter ihre Leistungsfähigkeit auf freiwilliger Basis einzubringen, so selbst aktiv zu bleiben und gleichzeitig die Sozialgemeinschaft zu unterstützen, die sie mit versorgt.
Die Einführung der Altersrenten und Pensionen war einst ein grosser, mutiger Wurf. Doch die Zeiten haben sich geändert. Und zwar so stark, dass ein neuer, grosser Wurf fällig ist und diese grossartige Erfindung auf den Prüfstand muss. Allerdings sind Pfründe abgesteckt, Besitzstände etabliert, Widerstände vorprogrammiert. Die Altersrente ist kein Naturgesetz, sie ist eine Erfindung und wenn wir sie nicht bald neu erfinden, könnte sie irgendwann ein Ding der Vergangenheit sein. Aber wenigstens hätten wir dann noch die Gravitation... immer noch besser als gar nichts, oder?