von Patrik Etschmayer / Quelle: news.ch / Freitag, 3. September 2010 / 10:45 h
In der Schweiz wird der Kampf Stadt gegen Land ausgerufen und in allen Ländern beherrscht esoterischer Mist, religiöser Schrott oder pseudowissenschaftlicher Schwachsinn die Bestsellerlisten (womit man wieder bei gewissen Thesen von Sarrazin und dem dumpfen Niederschreien derselben angelangt wäre).
Diese Dinge scheinen alle keinen Zusammenhang zu haben und doch stehen sie in Verbindung. Denn überall steht das Unding der substanzlosen Meinung im Mittelpunkt. Meinungen ersetzen in der heutigen Zeit immer mehr das Wissen, oder zumindest das Wissen, etwas nicht zu wissen.
Dabei kommt jede Menge Meinung im Gewand von «Wissen» daher. So zum Beispiel, wenn von jüdischen und baskischen Genen geredet wird. Natürlich ist es möglich, dass einzelne Gensequenzen in gewissen Bevölkerungssegmenten häufiger vorhanden sind, als in anderen. Aber genau so finden sich viele dieser Sequenzen im Erbgut von Leuten, die gar nicht zu diesen Gruppen gehören. Viel wichtiger ist hingegen, welche Gene ausgedrückt werden, was, wie Regula Stämpfli vor kurzem an dieser Stelle ausgeführt hat, komplexeste Hintergründe haben kann... aus der pseudowissenschaftlichen Simplizität wird, bei genauem Hinsehen, extreme wissenschaftliche Komplexität. Doch die ist für «Meinung» nicht geeignet.
Ebenso verhält es sich mit kulturellen Stereotypen. Muslime sind nicht per se rückständiger. Die kulturelle Ausprägung bestimmter Einstellungen ist vielfach ein Resultat von Jahrhunderten dynamischer Wechselwirkung zwischen verschiedenen Kulturen und überhaupt nicht determiniert - wobei auch die Beobachter und ihr Bias die Wahrnehmung entscheidend beeinflussen. Wer hingegen glaubt, dass auf keinen Fall mehr Dialog möglich ist, steuert unweigerlich auf einen selbst-prophezeiten Konflikt zu.
Daran sind nicht zuletzt die Medien, die immer nach der kurzen Schlagzeile suchen und die Sucht des Konsumenten, genau diese serviert zu bekommen, Schuld. Für die komplexe Realität bleibt da kein Platz.
Tea Party Protest in Washington: Meinung als Endpunkt des politischen Diskurses /


Zu verlockend ist es, hochkomplizierte Erkenntnisse so zu vermitteln, dass sie zwar falsch dargestellt, aber dafür schön einfach sind. Vor allem ideologisch motivierter Journalismus (der diesen Namen eigentlich nicht verdient), zeichnet sich durch diesen Mangel aus.
Die Leser und Hörer dieser Art von Propaganda mit dem Tarnmantel der Information, sind in den USA bereits zu einer politischen Kraft angewachsen. In der Tea-Party-Bewegung, die von Demagogen wie dem Fox-News-Moderator Glenn Beck angestachelt werden, peitschen diese die Massen mit einer Mischung aus Lügen, Andeutungen und Feindbildern auf und verkaufen diesen eine schwarz-weisse Welt als Realität.
Das Ziel, unüberwindbare Gräben in die Gesellschaft zu schlagen, lässt sich so sehr gut erreichen. Wer in einem Universum aus halb- und gar-nicht-Wahrheiten lebt, betrachtet jenen Teil der Gesellschaft, der diese Ansichten nicht teilt, nicht einfach als politischen Gegner, sondern als Todfeind. Statt Dialog kann es nur Konfrontation geben. Der Gedanke, dass mehr, bessere und andere Informationen nützlich sein könnten, ist für diese Menschen Ketzerei.
Die Entzweiung der Gesellschaft wird jedoch nicht nur in den USA fröhlich betrieben. Auch hier verschanzen sich immer mehr Menschen in bequemerweise im Voraus ausgehobenen Schützengräben. So wurde – vor dem Hintergrund des Eidgenössischen Schwingfestes – eine neue Front zwischen Stadt und Land ausgerufen. Wobei die ländliche Schweiz, die – berücksichtigt man die von dort täglich in die Zentren fliessenden Pendlerströme – de facto eine vor allem in den Köpfen vieler Eigenheimbesitzer im Mittelland existierende Fiktion ist, natürlich als die gute, echte Schweiz gilt, wo währschafte Menschen herkommen und die urbane Schweiz für alles schlechte und verderbte steht: Sozis, Arbeitslose und Schmarotzer.
Handkehrum verachten jene, die sich als urban ansehen, das Hinterland, das sie eh nur als ausgedehnte Agglomeration betrachten, als Hort des Reaktionären, Dumpfen, Tumben. Und entsprechende Rhetoriken liessen denn auch nicht auf sich warten.
Beides ist Blödsinn. Die Schweiz, ja jede moderne Gesellschaft hat zwei Möglichkeiten: Entweder Entzweiung und Selbstzerfleischung, die zu blockierten Regierungen und einem zerstörerischen Zick-Zack-Kurs führt. Oder zu begreifen, dass vielfache Realitäten nebeneinander existieren und die Vernetzungen so dicht sind, dass nur Dialog, Diskurse mit offenem Resultat und ein Abschied von dumpfen Dogmen Fortschritt bringen kann.
Doch dafür muss die Herrschaft der Meinung gebrochen werden. Der Terminus «Spezialist» darf kein Schimpfwort mehr sein, nur weil die betreffende Person sich tief mit einem Thema beschäftigt und dazu eben Wissen und nicht nur Meinung hat – auch wenn das Wissen der eigenen, lange kostbar gehüteten Meinung diametral entgegen steht.
Nur eine solche Gesellschaft, in der Wissen geachtet wird und eigenen Wissenslücken bei Bedarf mit dem Streben nach dem Ausfüllen derselben und nicht mit stolz zur Schau getragener Ignoranz begegnet wird, kann in der Zukunft bestehen.
Und nein, Meinungen – wie auch dieser Beitrag – würden nicht abgeschafft und blieben wichtig, denn sie sind der Anfangspunkt jedes Diskurses. Seit sie allerdings auch fast immer der Endpunkt sind, haben wir ein Problem, das leider so bald nicht weg gehen wird.