von Patrik Etschmayer / Quelle: news.ch / Montag, 27. Dezember 2010 / 10:30 h
Sicher. Das, was man vor 20 Jahren als Mittelklasse bezeichnet hat, gibt es immer noch. Aber sie schrumpft, wird von unten angeknabbert, von oben ausgefranst. Facharbeiter und Angestellte in der Privatwirtschaft sehen sich plötzlich ohne Stelle wieder, erleben, wie ihr Arbeitsplatz mit samt der Firma nach Osteuropa wandert oder erleiden nominelle Einkommenseinbussen. Die Regel, dass für eine kleine Familie ein Einkommen ausreicht, ist längst hinfällig geworden.
Über die Ursachen kann vortrefflich gestritten werden: Globalisierung, Wirtschaftskrise, die demografische Entwicklung. Und tatsächlich lässt sich manche Ursache nicht irgend jemandem in die Schuhe schieben, sondern ist strukturell und mit einer Meta-Logik über unseren Wunschtraum einer materiell gerechten Gesellschaft herein gebrochen.
Wann genau dies begann, ist ebenso debattierbar wie der Begriff der Mittelklasse oder Mittelschicht generell. Denn es zählen sich gerne auch Leute dazu, die statistisch gar nicht zu dieser allerdings ziemlich gummimässig definierten Schicht gehören. So sehen sich auch Leute mit tieferem Einkommen, die bereits staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen ebenso als Mitglieder der Mittelklasse, wie Millionäre oder gar der Milliardäre, die damit vermutlich zum Ausdruck bringen wollen, dass sie Mittelklässler sind, die es zu Vermögen gebracht, aber ihr Zugehörigkeitsgefühl zu ihrer Herkunft nicht verloren haben.
Gepfändetes Haus in den USA: Mittelschicht unterm Hammer /


Auch wenn dies natürlich absurd ist.
Die ersteren geben sich der Illusion hin, sich doch noch vom Fall ins Prekariat retten zu können, die letzteren wollen einfach nicht mit den unbeliebten Superreichen in den gleichen Whirlpool geschmissen werden, auch wenn sie längst dort drin ihren Jahrgangsschampus mit Beluga-Kaviar-Häppchen geniessen.
Doch das Verhalten beider Gruppen deutet darauf hin, dass 'Mittelschicht' eine Art Wunschtraum und gesellschaftlicher Idealzustand ist, den zu erreichen und erhalten viele anstreben oder zumindest zu erhalten vorgeben. Denn die Mittelklasse war der erfüllte Traum davon, dass der grösste Teil der Gesellschaft ohne materielle Not leben könnte, dass die Zeiten von Ober- und Unterschicht, von den wenigen Reichen und den vielen Armen vorbei wäre und dass eine homogene Gesellschaft möglich wäre, mit allen Schattierungen gleichmässig verteilt und nicht nur schwarz und weiss...
Dieser Traum wird nun der Gewinnoptimierung, der Logik des puren Marktes geopfert. Doch der «Markt» vergisst dabei eines: Das gigantische Wachstum und der Erfolg des westlichen Marktes beruhte vor allem auf der Mittelklasse und ihrer Fähigkeit, sich Dinge leisten zu wollen und vor Allem zu können. In den USA, dem ersten Land wo die Abschaffung dieser Gesellschaftsschicht bereits mit grosser Energie betrieben wird, zeigen sich auch die Auswirkungen am klarsten: Selbst wenn Banker sich Milliarden an Boni gönnen, schleppt sich die breite Wirtschaft nur mit Mühe dahin, da es an einer breiten Konsumentenschicht fehlt, die sich noch etwas leisten und die Binnennachfrage ankurbeln kann, ohne sich in eine Schuldenfalle ohne Ausweg zu begeben.
Das Land hingegen, wo das Phänomen Mittelschicht sich gerade erst rasant etabliert, China, ist die Wachstumslokomotive der Welt, wobei natürlich auch dort nicht alles wunderbar ist. Und doch zeigen diese Beispiele, dass es nur dort, wo vor allem viele ein gutes und nicht nur wenige ein tolles Einkommen haben, die Wirtschaft florieren kann und wird.
Doch die Einsicht, dass es nicht klug ist, wenn jemand versucht, alles Essen vom Tisch zu nehmen und den anderen nichts übrig lässt, ist leider nicht mehr die akzeptierte Wahrheit. Eine gewisse Bescheidenheit, ein vernünftiges Mass halten, ein Mindestmass an Respekt für die anderen gilt als ein Zeichen der Schwäche und nicht des ethischen Handelns. Die Mittelschicht ist die Schicht der Verlierer geworden. Der neue Klassenkampf hat begonnen: er wird von oben geführt und die Mittelklasse wird dabei über kurz oder lang auf der Strecke bleiben, wenn sich nicht viele Dinge grundsätzlich ändern werden.