Am Sonntag stimmten die Tunesier über die Verteilung der 217 Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung ab. Die Umfragen der vergangenen Wochen hatten darauf hingedeutet, dass die Ennahda die stärkste Kraft in der verfassunggebenden Versammlung werden würde, ohne jedoch die absolute Mehrheit der Sitze zu erhalten.
Zweitplatziert hinter der Ennahda war in den ausgezählten Bezirken der linksnationalistische Kongress für die Republik (CPR) mit sechs Mandaten, gefolgt von der Petition für Gerechtigkeit und Entwicklung mit fünf Mandaten. Die übrigen Mandate verteilten sich auf mindestens fünf kleinere Parteien.
Neun Monate nach dem Sturz des langjährigen Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali war die Abstimmung vom Sonntag der erste Urnengang für einen demokratischen Neubeginn in dem nordafrikanischen Land.
Die 217 Abgeordneten der verfassunggebenden Versammlung sollen eine neue Verfassung ausarbeiten und einen Präsidenten bestimmen, der dann den Chef einer Übergangsregierung ernennen soll
Diktat eigener Regeln unmöglich
Nach Angaben des deutschen Islamwissenschaftlers Mathias Rohe gibt es keine Anzeichen für einen künftigen Gottesstaat in Tunesien.
Die ersten freien Wahlen in Tunesien glänzten durch eine enorm hohe Wahlbeteiligung. /


Er könne sich nicht vorstellen, dass ein strikter Scharia-Islamismus in einer vergleichsweise liberalen Gesellschaft wie der tunesischen durchsetzbar sei, sagte der Jurist und Direktor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa im Deutschlandradio Kultur.
Strafrechtliche Bestimmungen des islamischen Rechts Scharia bestehen in Tunesien seit Jahrhunderten nicht mehr. Und seit 1956 gibt es ein säkulares Familienrecht, die Polygamie ist seither abgeschafft. Frauen sind heute ausser beim Erbrecht den Männern gleichgestellt.
"Die Ennahda hat keine Chance, ihre eigenen Regeln in die neue Verfassung hineinzudiktieren", sagte der tunesische Historiker Faisal Cherif. Dazu messe die tunesische Gesellschaft "bestimmten Prinzipien" wie der Gleichstellung von Männern und Frauen sowie der Trennung von Religion und Staat eine zu hohe Bedeutung bei.
Ähnlich sieht es Pierre Vermeren, Nordafrikaexperte in Paris. Mit bis zu 30 Prozent der Stimmen seien zudem auch liberale, linke und säkulare Parteien "eine starke Kraft" in der verfassunggebenden Versammlung.