Im Drehbuch des polnischen Sommermärchen war für den 25-jährigen Tyton vom PSV Eindhoven keine Hauptrolle vorgesehen. Noch vor neun Monaten sah Tytons Situation düster aus. Eine Nomination für die EM geschweige denn ein Einsatz während des Turniers lag in weiter Ferne. Ein fürchterlicher Zusammenprall mit Timothy Derijck hätte im Spiel am 18. September 2011 gegen Ajax Amsterdam böse enden können. Tyton wurde von seinem Teamkollegen am Kopf getroffen und war mehrere Minuten bewusstlos liegen geblieben. Mit einer schweren Hirnerschütterung kam der Torhüter glimpflich davon.
2007 war Tyton aus der zweiten polnischen Liga nach Holland zu Roda Kerkrade gestossen, wo er vier Jahre in der Anonymität der Eredivisie spielte, ehe er im Sommer 2011 an den PSV Eindhoven ausgeliehen wurde. Dort fand er sich bis zu diesem Frühjahr mehrheitlich auf der Bank wieder. Erst dank einer Schwächephase von Stammkeeper Andreas Isaksson bot sich Tyton die Chance, den Schweden zu verdrängen. Der 25-Jährige nutzte sie, kam in der zweiten Hälfte der Rückrunde regelmässig zum Einsatz und gewann mit dem PSV im Frühjahr den holländischen Cup.
Grosse Konkurrenz
Tytons Platz im EM-Kader war dennoch nicht gesichert. Auf keiner anderen Position sind die Polen so stark besetzt wie im Tor. Mit Wojciech Szczesny, Lukasz Fabianski (beide Arsenal), Tomasz Kuszczak (Manchester United/Watford) und Artur Boruc (Fiorentina) verfügen die Polen über mehrere international überdurchschnittliche Torhüter. Trainer Franciszek Smuda setzte auf den 1,95 m grossen Tyton nicht in erster Linie wegen seiner fussballerischen Klasse. Der Coach schätzt den schüchternen Tyton, der seine Rolle innerhalb des Teams akzeptiert und keine Ansprüche stellt.
Auch die Konkurrenz ebnete Tytons Weg ins Team. Wiederholte Alkohol-Eskapaden hatten 2010 zum Rausschmiss des langjährigen Stammtorhüters Boruc geführt; er hatte die Turniere 2006 und 2008 als Polens Nummer 1 bestritten. Auch Kuszczak fiel beim Trainer aus den Traktanden, da er lange Zeit den Anspruch hatte, die Nummer 1 zu sein.
Przemyslaw Tyton avancierte gegen Griechenland zum gefeierten Helden. /


Smuda kannte keine Gnade, da sich ihm für beide Alternativen boten. Und Fabianski, die eigentliche Nummer 2, hatte vor Beginn des Turniers eine Schulterverletzung erlitten, wodurch der Weg für Tyton zum Platz auf der Ersatzbank frei wurde.
Der gefallene Held
Die Rolle des Helden war aber nicht der Nummer 2 sondern Szczesny zugedacht, der mit einer starken Saison bei Arsenal Boruc vergessen machte. Der 22-Jährige sollte neben Goalgetter Robert Lewandowski und Captain Jakub Blaszczykowski zum Star dieser Endrunde werden und die Träume des polnischen Volkes von einer Überraschung wahr werden lassen. Szczesny war dafür prädestiniert. Im Gegensatz zu dem BVB-Duo mag er die Öffentlichkeit, er zeigt sich gerne in der polnischen «High Society», lässt sich für Hochglanzmagazine ablichten und besucht auch gerne einmal eine Fashion-Show, wie zuletzt kurz vor Beginn der EM, als die Spieler drei letzte freie Tage geniessen konnten.
Szczesnys Traum endete abrupt. Innerhalb von Sekunden war der Held gefallen. Der Schock war dem Arsenal-Keeper ins Gesicht geschrieben, als er gegen Dimitrios Salpingidis zu spät gekommen war und ihn von den Beinen holte. Die Heldentat seines Stellvertreters verfolgte er kniend in den Katakomben des Nationalstadions in Warschau. «Hölle für Szczesny - Himmel für Tyton», titelte das Webportal «Interia». Tyton bewahrte Polen vom «worst case» und verhinderte, dass Szczesny zum Versager wurde.
Wie in einem Traum
Der «Retter» blieb bescheiden, Ansprüche stellt er trotz seiner Heldentat keine. Als «Geschenk» bezeichnete Tyton seinen Einsatz. Er habe sich wie in einem Traum gefühlt. Erstmals überhaupt parierte an einem EM-Turnier ein eingewechselter Torhüter einen Penalty, was für Smuda allerdings keine Überraschung war. Tyton gilt als Penaltykiller. Ehe dieser seinen Platz wieder Szczesny überlassen wird, bietet sich ihm heute in seinem siebten Länderspiel im Bruderduell gegen Russland noch einmal die Chance, seinem Helden-Epos ein Kapitel anzufügen. Mit dabei dürfte auch Tytons Mutter sein, die gegen Griechenland erstmals ein Länderspiel ihres Sohnes live im Stadion mitverfolgte. «Daran wird sie sich das Leben lang erinnern», so Tyton - der Held selber wohl auch.