Claude Fankhauser / Quelle: news.ch / Donnerstag, 19. Februar 2015 / 08:36 h
Unterwegs in Neuseeland, einem der Länder mit dem höchsten Anteil an
religionsferner Bevölkerung, ist der erste «Kiwi», der mich anspricht, ein
Missionar. Unglaublich aber wahr: Ich bin 24 Stunden geflogen, bin maximal
weit auf dem Globus gereist, und dieser junge Mann will mich mitten in
Auckland zu seinem Glauben konvertieren. Die freikirchlichen Prediger hier
sind aggressiver als bei mir zuhause, penetranter, und scheuen sich auch
nicht, einen am Fussgängerstreifen beim Versuch, die Strasse zu überqueren,
von Jesus überzeugen zu wollen. Ob es dieser Jesus, sofern es ihn denn
tatsächlich gab, schätzen würde, dass in seinem Namen Leute belästigt und
gefährdet werden, steht auf einem anderen Blatt.
Die Penetranz hat wohl damit zu tun, dass ihre Botschaft hier auf denkbar
steinigen Boden fällt. Denn nicht nur ist Neuseeland eines der Länder mit
dem höchsten Lebensstandard überhaupt, es wird, wenn man das Land bereist
auch klar, dass die Aussicht auf ein Paradies nach dem Ableben verblasst,
wenn man bereits in einem paradiesischen Ort lebt. (Nein, diese Kolumne
wird leider nicht vom neuseeländischen Board of Tourism gesponsert.)
Auch die neuseeländischen Ureinwohner hatten Mühe mit der Vorstellung von
Erbsünde und Auferstehung der Toten.
Vorschlag an den Kolumnisten: Wenigstens in Hobbiton dürfte er von Missionaren verschont bleiben und sich nur gegen Hobbits verteidigen müssen. /


Mit ersterem, weil sie die Idee von
Sünde an sich als absurd erkannten, mit letzterem, weil in der Glaubenswelt
der Maori die Ahnen sowieso ständig um einen herum präsent sind. Der
Australier, der mit uns das Aucklander Museum besuchte und sich tatsächlich
erblödete, beim Führer nachzufragen, ob die Maori schon vor der Ankunft
westlicher Missionare «kind of a religion» gehabt hätten, staunte nicht
schlecht, als ihm dieser Führer die vielfältige Glaubenswelt der
Ureinwohner schilderte, die diese bis zum heutigen Tag pflegen - von
christlichen Mythen weitgehend unbelastet.
Wie alle sozialen Phänomene hat auch Religion in einer Gesellschaft eine
klare Funktion. Bei den Maori ist dies in erster Linie eine
identitätsstiftende. Bei uns hatte Religion genau dieselbe Funktion; sie
ermöglichte Identität und gleichzeitige Abgrenzung von den «Ungläubigen».
Einzelne Spielarten monotheistischer Religionen erleben unter dieser
Funktion momentan ein Revival. Dabei ist klar, dass es sich um
Rückzugsgefechte handelt. Noch nie konnte sich Dogma auf lange Sicht gegen
die Freiheit des Denkens durchsetzen, noch nie gewann Ignoranz,
Sauertöpfigkeit und intellektuelle Askese den Marathon gegen Offenheit,
Humor und freien Diskurs.
«Jesus loves you, man!», ruft mir der junge Mann in Auckland nach, als die
Ampel endlich auf Grün schaltet. «Gandalf loves you too», rufe ich ihm als
Antwort zurück. Seiner Gesichtsfarbe nach zu urteilen, scheint er der
einzige Neuseeländer zu sein, der mit «Lord of the Rings» nichts anzufangen
weiss.