Valentin Abgottspon / Quelle: news.ch / Freitag, 27. März 2015 / 08:12 h
Sie kommt in letzter Zeit gehäuft vor: Die Behauptung, das Christentum sei irgendwie von sich aus besser, netter und zeitgemässer als der (radikalisierte, politisierte) Islam. Dem ist freilich nicht so. Alle religiösen Denksystemen und sonstige irrationalen Ideologien tragen in sich einen mehr oder weniger ausgeprägten Absolutheits- und Wahrheitsanspruch. Dass das Durchschnittschristentum aktuell kompatibler mit den Menschen- und Freiheitsrechten dasteht als z.B. der fundamentalistische Islam, ist nicht dem Christentum zu verdanken, sondern den Religionskritikern, den freien Denkern, der Menschenrechtsbewegung und der weltlichen Demokratie, welche die Religion und ihre Institutionen sowie deren Anmassungen einigermassen in die Schranken verwiesen und sie etwas zahmer und stubenrein gemacht hat.
Einerseits: Wer behauptet, das Christentum passe ohne Weiteres in eine säkulare Demokratie, der kennt und anerkennt die Geschichte und die Kriminalgeschichte dieser Glaubensrichtung nicht. Hexenverbrennung, Verfolgung und Folter von Anders- und Nichtgläubigen, Ausgrenzung und Diskriminierung, Pakt mit dem Nationalsozialismus, Konkordate, Schweigen und Rattenlinien... Da wird von den durchschnittlichen Schäfchen eindeutig zu wenig gewusst. Es wird auch interessant sein, wie sehr Luthers Antijudaismus und Antisemitismus im kommenden Reformations-Jubiläumsjahr unter den Tisch gekehrt werden wird. Oder eben nicht.
Andererseits: Blicken wir doch mal ins immer noch gültige kanonische Recht der römisch-katholischen Kirche. Das sind die für alle gültigen Vereinsstatuten. Ähnlich wie bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Alltagsleben oder bei der Bibel: Die Wenigsten kennen das im Detail, die Wenigsten lesen sich das auch wirklich durch. Da steht z.B. in can. 1398, dass jeder und jede an einer Abtreibung Beteiligte exkommuniziert ist. Also jeder Arzt, der eine Abtreibung vornimmt, jedes Mädchen, das sich frei für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet. Auch unter den Evangelischen und Evangelikalen wütet der Hass auf Homosexuelles und Anderssexuelles immer noch recht frei.
Dass religiöse Ideen einen schlechten Einfluss auf Handlungen und Haltungen von eigentlich ethisch zurechnungsfähigen Menschen haben, liegt nicht einfach nur daran, dass sie irgendwelchen Rattenfängern auf den Leim gehen, welche im Grunde gute religiöse Ideen missbrauchen. Viele religiöse Grundsätze sind zutiefst verrottet.
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Denken wir an die Auserwähltheit, das Wir-gegen-Die-Denken, das Glauben-statt-Wissen, das Nicken-statt-Hinterfragen...
Es ist eine ausserordentlich wichtige Frage: Worauf gründen unsere Entscheidungen? Auch auf Basis von schlechten Fundamenten und falschen Vorstellungen können gute Handlungen und positive Wirkungen entstehen. Wer kennt sie nicht? Die netten, gut meinenden und gut handelnden liberalen Religiösen? Die nette Grossmutter oder den freundlichen Diakon, welche nichts gegen Homosexuelle und Freidenker haben. Was aber von diesen geleistet werden muss: Sie müssen immer wieder ihre heilige Schrift zurechtbiegen. Sie müssen Rosinen herauspicken und üble Stellen ignorieren. Solche andauernde Verrenkungen führen zu Haltungsschäden.
Warum also nicht direkt vernünftig und frei sein? Weshalb nicht gleich rational helfen? Ohne religiösen Ballast? Dann müsste man und Frau nicht unangemessene Stellen aus der Bibel, der Thora, dem Koran oder aus einer andere eigentümlichen Schrift weglügen oder zurechtbiegen. Es wäre allen gedient. Lernen wir, unseren Verstand zu gebrauchen, um besser miteinander umgehen zu können. Meiner Meinung nach ist es verschwendete Verstandesenergie, wenn wir sie aufwenden, um Unpassendes aus der Tradition und den Schriften aktiv zu ignorieren oder zurechtzubiegen. Solches Zurechtbiegen und sich selber auch mal übers Ohr Hauen bzw. sich selber anlügen: Es führt meistens nur zu einer milden kognitiven Dissonanz. Seltenst erwächst daraus wirklich Fürchterliches.
Worüber ich mich auch noch auslassen möchte: Über die pseudo-überlegenen Theologen und Kuschelchristen, welche genau dann so schrecklich erwachsen und abgeklärt (i.e. herablassend) tun, wenn man ihre heilige Schrift mal ernst und wörtlich nimmt. Es sei ja fundamentalistisch, und geradezu lächerlich, dass/wenn man heilige Schriften ernster und wörtlicher nimmt als sie es für angemessen halten. Da sind sie dann gerne Richter, die entscheiden, wie genau man jetzt die so genannt heiligen Schriften für heute fruchtbar statt furchtbar mache. Ich frage diese Leute dann immer gerne: «Was war denn der Vorteil von eurer Religion, wenn ihr heute mit dem damaligen Zeitgeist und der Gesellschaft rechtfertigt, was euch heute nicht mehr passt? Wieso sollten wir euch heute mehr Glauben schenken als euren damaligen Entsprechungen?»
Sämtliche Religionen eignen sich als Basis für Fundamentalismus und für perverse Handlungen. Vielleicht den Jainismus und die Verehrung des Fliegenden Spaghettimonsters ausgenommen. Und fast alle Religionen haben Leichen im Keller oder zumindest Peinlichkeiten im Schrank.
Wir haben mittlerweile genügend weltliche Quellen einer zeitgemässen Ethik. Wie viel mehr könnten wir erreichen ohne (religiöse) Scheuklappen, ohne Rechtfertigungsballast, ohne Krücken? Je weniger Apologie und Rosinenpickerleistung geleistet werden muss, desto fundierter und stimmiger wird unser Weltbild und unser ethisches Fundament. Eine Krücke kann beim Laufen hinderlich sein. Ganz besonders dann, wenn man über zwei gesunde Beine verfügt.