Thun anstelle von Basel Meister? Eibar auf Kosten von Barça oder Real Madrid am Ende der Saison auf Platz 1? Carpi entthront Juventus Turin? Guingamp stoppt Paris Saint-Germain? Undenkbar, im Prinzip ausgeschlossen! Leicester wirtschaftet zwar grundsätzlich in einer anderen Preisklasse als die aufgelisteten Zwerge, aber im Verhältnis zur englischen Konkurrenz ist der Vergleich mit anderen Leichtgewichten Europas zulässig.
Im Ballungsraum der global bekanntesten und finanzkräftigsten Klubs, im wohl schwierigsten und höchstdotierten Wettbewerbsfeld der internationalen Fussballbranche, in der Liga mit dem weltweit grössten TV-Geldvolumen stellte ein 1:5000-Aussenseiter Giganten wie Manchester City, ManU, Liverpool oder Chelsea vor unlösbare Probleme. Auf eine solche Story wäre kein irdischer Drehbuchautor je gekommen.
Gigantische Systemausfälle
In den letzten 55 Saisons schockten zwei englische Klubs die nationale Konkurrenz im ähnlichen Stil. Ipswich Town (1961) mit Sir Alf Ramsey an der Seitenlinie und Nottingham Forest (1978) unter dem legendären Coach Brian Clough. Im Jahr der Forest-Mania wird Karol Wojtyla als Johannes Paul II. zum Papst gewählt, in Italien wüten die Roten Brigaden, Grossbritannien tritt der Europäischen Gemeinschaft bei, der «Spiegel» muss auf Geheiss der DDR-Führung sein Ostberliner Office schliessen.
Kurzum: Nottingham siegte in einer anderen Zeitrechnung, TV-Sequenzen aus jener Epoche wirken in der aktuellen High-Speed-Gesellschaft wie Zeitlupenaufnahmen. Namenlose Sieger gab es schon immer, aber Gewinner aus dem Nichts, die in einem hochgerüsteten und restlos technologisierten Umfeld während 36 Runden bei ausnahmslos allen Favoriten Systemausfälle provozieren, sind einzigartig.
Eine Equipe mit einem Topskorer namens Jamie Vardy, der vor wenigen Jahren in der achten Liga gegen den Ball kickte und sich bei den Stocksbridge Park Steels wegen einer Kneipenschlägerei eine halbe Saison lang nach einer Stunde auswechseln liess, um seine elektronischen Fussfesseln rechtzeitig zu montieren, manövrierte die komplette Prominenz aus.
Der irische Chef-Scout Steve Walsh dribbelte alle aus; er hob Spieler aus der Versenkung, die sämtliche übrigen Laptop-Strategen übersehen hatten, oder für zu wenig entwicklungsfähig taxierten. Er entdeckte reihenweise Juwelen, unter ihnen Riyad Mahrez, den er dem französischen Zweitligisten Le Havre für 500'000 Euro abkaufte.
Claudio Ranieri und seine Mannschaft überraschten diese Saison alle. /


Der Algerier ist inzwischen zum Spieler der Saison gewählt worden; für ihn werden in Kürze mit 30 Millionen dotierte Offerten vorliegen.
Kaum fassbare Dimension
Die sportliche Reichweite Leicesters fühlte sich auf dem Papier derart gering an, dass kein einigermassen vernünftiger Experte das Team der Abgeschobenen, Aussortierten und Unterschätzten im vergangenen Sommer für gut genug hielt, auch nur ansatzweise eine wichtige Rolle zu spielen. Der BBC-Fussballchef Phil McNulty hielt wie viele seiner Berufskollegen die erneute Relegation für wahrscheinlicher als eine Top-10-Klassierung.
Um die Dimension der Überraschung zu erfassen, ist womöglich ein weiterer Auszug erheblicher Zahlen hilfreich: Die von Claudio Ranieri bevorzugte Startelf ist rund zwölfmal weniger kostenintensiv als jene von Man City - 28 Millionen Euro vs. 358 Millionen. Das Portal «Sporting Intelligence» und die Wirtschafts-Agentur «Bloomberg» platzierten den Hinweis, Manchester United habe während der zweijährigen Amtszeit von Louis van Gaal (geschätzte 250 Millionen Pfund) mehr investiert als der neue Titelträger in den 132 Jahren seiner Klubgeschichte.
In mehreren fundierten englischen Kommentarspalten wird der grandiose Coup Leicester als «eine der grössten Sportgeschichten aller Zeiten» gewürdigt. Die in der Regel eher zurückhaltende BBC ist sich mit den Schlagzeilenproduzenten der «Sun» für einmal uneingeschränkt einig: «Leicesters Krönung ist die grossartigste Fussballgeschichte aller Zeiten!»
Beim grössten englischen Wettanbieter setzten exakt 47 Unentwegte auf die kleine City, die im Verlaufe ihrer Geschichte 22-mal auf- oder abgestiegen ist und erst vor sechs Jahren für weniger als 40 Millionen Pfund (!) den Besitzer wechselte.
Ein Wendepunkt?
Der frühere Topstürmer Alan Shearer, 1995 mit Blackburn Meister, bevor sich bis zur Sensation von Leicester ausnahmslos Teams aus London und Manchester durchsetzten, ordnete den sagenhaften Triumph der «Foxes» ebenfalls ganz oben ein: «Was ein Team wie Leicester schaffte, es nicht nur mit den reichen und erfahrenen Giganten aufzunehmen, sondern sie zu schlagen, ist das Beste, was im Fussball passieren kann.»
Robbie Savage pflichtete der Three-Lions-Ikone bei. Der Ex-Leicester-Profi glaubt, der Exploit des Vereins aus den East Midlands sei wohl nie mehr zu toppen. Und er ist sich sicher: «Das ist ein Wendepunkt in der Geschichte der Premier League.»
In die gleiche Richtung zielte Irlands Selektionär Martin O'Neill - auch er einst mit respektablem Output in Leicester engagiert. Der Verein habe nicht nur eine brillante Geschichte produziert, sondern jedermann etwas Hoffnung gebracht, «dass die Romantik im Fussball nicht verschwunden ist».
Für den «Guardian» ist es auch ein Triumph des Widerstandes - in einer weitgehend orchestrierten und keimfreien Fussballwelt weniger Leader, die mit Hilfe Hunderter Spezialisten und professioneller Berater «Zufallsprodukte» wie Leicester im Prinzip auf ein Minimum reduzieren wollen. «Viva Leicester!»