«In knapp zwei Wochen sind wir zuhause», sagt Timothy Collings. Seit 1976 ist der englische Journalist, der für die Agentur «Reuters» in London arbeitet, an fast jedem grossen Turnier mit den «Three Lions» dabei, doch sein Urteil über die Mannschaft, die heute in Donezk gegen Frankreich in das Turnier startet, ist vernichtend. «Ich mag mich nicht erinnern, dass wir in all diesen Jahren jemals ein so schwaches Team hatten.»
Die Meinung von Collings teilen viele auf der Insel. Bereits die Qualifikation für die Viertelfinals wäre ein positives Resultat. Das grosse Ziel der Engländer ist die WM 2014. Bis dann soll Hodgson eine schlagkräftige Truppe aufgebaut haben. Auch deswegen gab die Football Association (FA) ihrem Manager einen bis 2016 gültigen Vertrag. Die EM in Polen und der Ukraine wird bei vielen Beobachtern als ein Testlauf abgetan - auch wenn allein die Tradition England in den erweiterten Kreis der Titelanwärter drängt.
Probleme so weit das Auge reicht
Die Vorbereitung der Engländer verlief trotz der beiden 1:0-Siege gegen Norwegen und Belgien alles andere als ideal. Die Hiobsbotschaften erreichten Hodgson fast täglich, zuletzt erwischte es James Milner (Blasen an den Füssen) und Martin Kelly (Virus), die für das letzte Training am Samstag in Krakau vor dem Abflug nach Donezk passen mussten. Davor hatte der Todesfall von Jermain Defoes Vater für Unruhe gesorgt. Der Stürmer von Tottenham hatte kaum in Polen angekommen das Camp bereits wieder für ein paar Tage in Richtung Heimat verlassen.
Hinzu kommen die Diskussionen um die Nichtnomination von Rio Ferdinand, die seit der Ankunft des Teams in Polen nicht abreissen. Nun hat sich auch Hodgson zu diesem Thema geäussert. Er wollte dem 81-fachen Internationalen die Rolle des Bankdrückers nicht zumuten, so der 65-Jährige. Das Übergehen des ManU-Verteidigers ist brisant, aus sportlichen Gründen aber nachzuvollziehen. Trotz des Ausfalls von Gary Cahill verfügt Hodgson mit Joleon Lescott von Meister Manchester City und Phil Jagielka vom FC Everton über zwei gute Alternativen neben dem gesetzten John Terry (Chelsea).
Der heimliche Anführer
Dieser steht unter besonderer Beobachtung.
Roy Hodgsons Team wird nicht sonderlich viel zugetraut. /


Noch hallen die gegen ihn erhobenen Rassismus-Vorwürfe - Terry soll Ferdinands Bruder Anton beleidigt haben - nach. Diese hatten zu seiner Absetzung als Captain und als Folge davon zur Trennung der FA von Fabio Capello geführt. Doch Terry bleibt der heimliche Anführer der «Three Lions», auch wenn die Binde nun Steven Gerrard trägt.
Schon früh war Terry bei seinem Klub Chelsea in die Leaderrolle gewachsen, wobei ihm insbesondere der frühere Welt- und Europameister Marcel Desailly als Vorbild diente. «Er ist auch ohne Armband ein grosser Spieler und ein grosser Leader», sagte einst Wayne Rooney über Terry, als diesem vor der WM 2010 in der Nationalmannschaft erstmals die Binde entzogen worden war - wegen einer Affäre mit der Partnerin eines ehemaligen Teamkollegen.
Die grössten Sorgen bereitet den englischen Fans und Experten die Offensive. Die Ausfälle von Frank Lampard und Wayne Rooney setzen den Engländern am meisten zu. Dem Mittelfeld fehlt durch die Absenz Lampards die Kreativität, ganz vorne mangelt es an Erfahrung auf internationalem Top-Niveau. Rooney, der wegen seiner Rote Karte in der Qualifikation in den ersten beiden Spielen fehlt, könnte aber dennoch für Schlagzeilen sorgen. Das englische Quartier liegt nur wenige hundert Meter von der Altstadt Krakaus entfernt, wo sich Restaurants, Bars und Night-Clubs Tür an Tür reihen. Da hilft auch der von Hodgson proklamierte Verhaltenskodex wenig.
Hart: «Wir sind hungrig»
Trotz der zahlreichen Rückschläge und schlechten Prognosen bleibt das Interesse am Team der «Three Lions» immens. Rund zwei Dutzend TV-Kameras und mehr als 100 Journalisten berichten von den täglichen Geschehnissen im Camp. Und zumindest die Mannschaft hat den (Zweck-)Optimismus bewahrt. «Wir haben sehr gute Spieler und eine sehr gute Mannschaft. Wir sind gekommen, um Spiele zu gewinnen», sagte Torhüter Joe Hart. Der Keeper von Manchester City gilt als einer der wenigen Hoffnungsträger und könnte die englischen Torhüterprobleme der letzten Jahre lösen. «Wir sind hungrig und haben hohe Erwartungen an uns, denn wir repräsentieren unser Land.»
Nichtsdestotrotz wird England erstmals seit Jahrzehnten nicht als Mitfavorit in ein grosses Turnier starten. Hodgson ist sich der Ausgangslage bewusst: «Es werden wohl die heissesten drei Wochen meiner Karriere werden.» Die Rolle des Aussenseiters ist für Hodgson aber nicht neu - und sie behagt ihm. Seine grössten Erfolge als Trainer feierte er als «Underdog».