Reta Caspar / Quelle: news.ch / Donnerstag, 16. August 2012 / 10:18 h
Bis in die Neuzeit hinein wurden Kinder von Geburt an zum Eigentum der Eltern gezählt. Sie mussten sich dem Familienoberhaupt bedingungslos unterordnen. Erst mit der Aufklärung und mit der französischen Revolution 1789 wurde - ganz im Sinne Rousseaus - erklärt: «Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.» Konkrete Überlegungen in Bezug auf das Wohl von Kindern gab es darin zwar noch nicht, aber in der Folge doch Verbesserungen in der Praxis: 1833 in England das Verbot der Fabrikarbeit für Kinder unter neun Jahren und 1896 in Deutschland das Verbot der «groben» Misshandlung und «unangemessenen» Züchtigung durch Eltern und andere Erzieher.
Unter dem Eindruck des Kinderelends im 1. Weltkrieg verabschiedete die Generalversammlung des Völkerbundes 1924 eine Kinder-Charta, in der Fortsetzung die UNO 1959 eine - immer noch unverbindliche - Erklärung der Rechte des Kindes. Danach dauerte es nochmals 30 Jahre bis 1989 eine verbindliche Konvention über die Rechte des Kindes verabschiedet wurde. Diese Kinderrechtskonvention (KRK) wurde von allen Ländern der Welt (ausser USA und Somalia) ratifiziert. Regierung und Politik sind seither unter anderem gefordert, in allen das Kind betreffenden Entscheidungen das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen (Art. 3) und wirksame und geeignete Massnahmen zu ergreifen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen (Art 24).
In der Schweiz hatte es bis 1978 gedauert, bis wenigstens das ausdrückliche Züchtigungsrecht der Eltern aus dem schweizerischen Zivilgesetzbuch gestrichen wurde - ein ausdrückliches Verbot wurde aber nicht festgeschrieben. Die Schweizer Politik ging bis 1995 klar davon aus, das Sorgerecht der Eltern enthalte die Befugnis, Kinder zu züchtigen. 1997 hat die Schweiz die KRK ratifiziert. 2008 hat der Bundesrat die Empfehlung im Bericht des Menschenrechtsrats zur Umsetzung der KRK akzeptiert, das explizite Verbot von allen Praktiken von Körperstrafen gegen Kinder in Erwägung zu ziehen.
Zuvor hatte das Bundesgericht 2003 ein Grundsatzurteil gefällt gegen Gewalt an Kindern, in dem es die Rechtswidrigkeit von «Handlungen, welche die körperliche, psychische oder geistige Integrität von Kindern beeinträchtigen oder gefährden», direkt aus der Bundesverfassung abgeleitet hat.
Familie im 19. Jahrhundert: Kinder Eigentum der Eltern. /


2011 schrieb der Bundesrates in seiner Antwort auf eine Interpellation im Zusammenhang mit einem in christlich-evangelikalen Kreisen zirkulierenden Buch, mit dem Titel «Eltern - Hirten des Herzens», einem Plädoyer für eine Erziehung zu Gehorsam und Unterordnung und für das Mittel der körperlichen Züchtigung: «Gewaltanwendungen gegen Kinder, insbesondere auch in Form körperlicher Züchtigung, sind weder mit der Bundesverfassung noch mit der Bestimmung der KRK vereinbar, dass Kinder vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung zu schützen seien (Art. 19)».
Im Laufe von mehreren Hundert Jahren hat die Menschheit also ein ethisches Bewusstsein für die Rechte von Kindern entwickelt, das traditionelle, patriarchale, meist religiös begründete Elternrechte infrage stellt. Das Züchtigungsrecht gehört zu dieser religiös begründeten Tradition, es wird explizit aus der Bibel abgleitet und findet nur noch in extremen Gemeinschaften Anerkennung. Auch Praktiken wie Genitalbeschneidung, Zwangsheirat und andere - meist geschlechtsspezifische - Beschränkungen von jungen Menschen im Namen von Religion und Tradition verlieren angesichts des distanzierten Verhältnisses der Mehrheit der Bevölkerung zu religiös begründeter Ethik und Moral ihre Überzeugungskraft und damit ihre Mehrheitsfähigkeit.
Noch gelingt es den Religionsgemeinschaften gemeinsame Sache gegen Kinderrechte zu machen und die Politik mit einem völlig überzogenen Verständnis von Religionsfreiheit in Schach zu halten. Während die Politik blockt, stellen die Gerichte immer mehr auf die Urteilsfähigkeit von jungen Menschen ab: Kinder können auch in Bezug auf eigenes strafbares Verhalten bereits ab 10 Jahren als urteilsfähig und strafbar betrachtet werden, wenn sie die Tragweite ihres Handelns abschätzen können und laut Bundesgerichtsentscheid von 2003 darf eine medizinische Behandlung an einem 13-jährigen Kind nicht gegen dessen ausdrückliche Ablehnung vorgenommen werden. Und in Köln hat nun das Landesgericht festgestellt, dass die Zustimmung der Eltern die Körperverletzung der Beschneidung an einem Knaben nicht zu rechtfertigen vermag und ihnen zuzumuten ist, dieses religiös begründete Ritual auf einen Zeitpunkt zu verschieben, in dem das Kind urteilsfähig ist.
Mit dem gleichen Ansatz sollte auch das Religionsmündigkeitsalter revidiert werden. Das Schweizerische Zivilrecht (Art. 303 ZBG) statuiert das Erziehungsrecht der Eltern in religiösen Fragen: Erst mit 16 Jahren dürfen demnach hierzulande junge Menschen selber über ihre Religionszugehörigkeit entscheiden - in unseren Nachbarländern gilt in der Regel eine deutlich tiefere Grenze von 12 bis 14 Jahren. In den religiös dominierten USA bestimmen die Eltern hingegen bis zum 18. Lebensjahr die Religion ihrer Kinder (während ihnen das Recht mit 16 Jahren bereits den Führerschein anvertraut).
Die KRK (Art. 14) statuiert das Recht des Kindes auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und beschränken das Recht von Eltern darauf, das Kind bei der Ausübung seines Rechts in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu leiten - leiten also, nicht bestimmen, und «entwicklungsgemäss» kann ja doch wohl nur bedeuten: je älter desto freier.
Eine Senkung des Mündigkeitsalters in religiösen Fragen wäre ein starkes Signal an all jene religiösen Gemeinschaften, welche die jungen Menschen - insbesondere die jungen Frauen - traditionell gerade ab der Adoleszenz verstärkt kontrollieren. Und es wäre ein Zeichen an die jungen Menschen selbst, dass dieser Staat sie ernst nimmt, ihre Freiheit schützt und ihnen hilft, ihre Rechte durchzusetzen, statt sie den religiösen Ansichten ihrer Eltern auszuliefern: Das Erziehungsrecht der Eltern muss zu Gunsten der Religionsfreiheit des Kindes eingeschränkt werden.