Patrik Etschmayer / Quelle: news.ch / Montag, 20. August 2012 / 12:45 h
Früher waren die dicken Kinder die designierten Opfer in einer Schulklasse. Sie wurden gehänselt und getriezt, von ihren fitten Gspänli, denn sie konnten diese ja nicht einholen, da sie ausser Atem kamen, wenn die anderen schon um die übernächste Ecke gezischt waren. Tempi passati. Heute hat es in den Schulen so viele Dicke, dass es leichtsinnig wäre, sich mit diesem Fettwall anzulegen egal wie fit. So dürfte das wohl die einzige positive Entwicklung an der ganzen Sache sein.
Denn dicke Kinder sind bereits Opfer bevor sie es noch wissen. Und zwar Opfer ihrer Körper, die bereits in jüngsten Jahren auf Kamikaze-Kurs sind. Die Probleme werden vielfältig sein, da dick sein nicht nur mit der Körpermasse, sondern meist auch mit Bewegungsmangel und motorischen Defiziten einhergeht.
So sind Purzelbäume unterdessen zur echten Herausforderung geworden und ein 60 Meter Lauf kann von manchen Kindern nicht mehr unfallfrei gemacht werden, weil ihr Körper nie gelernt hat, richtig zu rennen; das Überqueren eines breiten Baumstammes artet zur auf allen Vieren absolvierten Tortur sowohl für das Kind als auch die Zuschauer aus.
In verschiedenen Kantonen wurden die klassischen Veloprüfungen abgeschafft... weil sie zu gefährlich seien. Nein, nicht der Verkehr ist auf den Prüfungsstrecken riskanter geworden, die Kinder schaffen es nicht mehr, vor dem Abbiegen zurück zu blicken und Zeichen zu geben, ohne sich dabei durch drohenden Verlust des Gleichgewichts in Gefahr zu bringen.
Die Ursachen sind dabei vielfältig: Körperlich inaktive Eltern machen meist den Anfang, der in vielen Fällen seine Fortsetzung im überbehüteten Kokon-Dasein erfährt, bei dem die Kinder mit dem Mami-Taxi von und zu Kindergarten und Schule chauffiert werden und in der Freizeit von hysterischen Eltern am Klettern und Toben gehindert werden, denn ihr Kleines könnte sich dabei ja womöglich weh tun... ein aufgeschlagenes Knie ist ja heute eine veritable Katastrophe.
Doch Umfallen gehört zum Kindsein wie das Atmen und die Turn- und Schwimmstunden sind für viele Kiddies die letzten Gelegenheiten, bei denen sie sich bewegen MÜSSEN. Wenn nun auch noch diese, Scheibchen um Scheibchen aus dem Schulalltag entfernt werden, weil zu teuer und beim Pisa-Test eh nicht berücksichtigt, dann verlieren die Kinder - und die Erwachsenen, die sie dereinst sein werden - noch viel mehr.
Die Kindheit geht vorbei - motorische Defizite bleiben für's Leben.
Inaktiv, dick und bald schon krank: Übergewichtige Kinder. /


Erwachsene, die sich als Kinder wenig bewegt haben, sind allfälliger für Unfälle, da sie mehr stolpern und umfallen. Je höher das Alter, desto extremer die Folgen.
Zudem zeigt sich schon jetzt eine bedenkliche Tendenz, dass die Typ 2 Diabetes, auch «Altersdiabetes» genannt, bei immer mehr jungen Menschen zuschlägt. Ursache: Übergewicht und Bewegungsmangel. Resultat: Medikamentenabhängigkeit und diverse Gesundheitsprobleme, die weit über die eigentliche Krankheit hinaus gehen. Doch dicke Kinder leiden als erwachsene noch an vielen anderen Dingen: grosser Gelenkverschleiss mit daraus resultierender Arthrose und Arthritis, Herz- und Kreislaufprobleme, Bluthochdruck, ein erhöhtes Risiko für manche Krebsarten und vieles mehr.
Doch schon als Kind leiden die kleinen Klopse: Sie werden ständig mit ihrer Unfähigkeit konfrontiert, Dinge zu machen, die für andere einfach, ja selbstverständlich sind. Diese Frustration führt zu einem weiteren Rückzug von körperlichen Aktivitäten, ein Teufelskreis. Und etwas weiteres sollte man nicht vergessen: Kinder, die rumtoben und sich bewegen, sind meist glücklich und klüger als passive Kinder: Wichtige Hirnareale werden beim körperlich aktiven Spiel entwickelt und gestärkt.
Natürlich, ein paar Stunden Turnen jede Woche können da nicht viel, aber durchaus etwas Positives ausrichten. Werden diese wenigen Stunden nun auch noch gekürzt, so hat dies nicht nur eine negative direkte Auswirkung auf die Schüler, es ist auch noch ein Signal dafür, dass es scheinbar in Ordnung ist, Kindern von Bewegung und körperlicher Aktivität fern zu halten.
Diese Entwicklung darf durchaus als katastrophal bezeichnet werden. Für die Einzelperson wegen der körperlichen Leiden, die viele erfahren müssen, für die Gesellschaft wegen der Krankheitskosten, welche die ohnehin strapazierten Gesundheits- und Sozialkosten explodieren lassen werden.
Es sind alle gefordert, vor allem auch die Eltern - doch diese sind vielfach ahnungslos und/oder Opfer ihrer eigenen übertriebenen Ängste. Doch die Bildungsdirektionen müssen dabei gestärkt werden, an den Schulen den Turnunterricht bei zu behalten, ja womöglich sogar auszubauen - wobei die Finanzen dafür durchaus auch aus dem Gesundheitsbereich kommen könnten - als eine wirklich lohnende Präventivmassnahme mit jahrzehntelangen Renditen.
Ausserdem wären weitere Massnahmen durchaus interessant: Das Verbot von Mami-Taxis, um auch den Schulweg zum Ort der Aktivität zu machen, das Anheben der Relevanz der Turn-Noten in den Zeugnissen und ein generelles Überdenken des Unterrichts, in den - durchaus auch im Sinne des Lernens - zusätzliche körperliche Aktivität eingebunden werden sollte (mehr Naturkunde im Wald? Physik an konkreten Beispielen, die von den Schülern selbst aufgebaut werden...), welche ein ganzheitliches Erfahren des Stoffes möglich macht. Nicht zuletzt gehört auch Ernährungskunde in den Unterricht, in denen die Industriefood-Gemästeten Rundlinge davon erfahren, was sie so alles in sich rein stecken (ein Fach, dem auch viele Eltern beiwohnen sollten).
Nein, die Jungen sind weder faul noch blöd noch unwillig - aber sie werden von unserer entkörperlichten Gesellschaft krank, ungelenk und weniger klug gemacht, als sie sein könnten. Und jede Turnstunde, die gestrichen wird, ist ein weiterer Schritt in Richtung einer Vollfett-Jugend, die niemand wirklich will.