Patrik Etschmayer / Quelle: news.ch / Montag, 22. April 2013 / 13:40 h
Nur weil Stalin das ihm vielfach zugeschriebene Zitat «Ein Toter ist eine Tragödie, eine Million Tote sind eine Statistik» nie gesagt hat, heisst dies noch lange nicht, dass dieses nicht einer tieferen Wahrheit entspricht. Und ebenso wie der kleine Junge als schreckliches Opfer heraussticht, so verschwimmen in unserem Bewusstsein die immer wieder in Kurzmeldungen in den Medien erwähnten Todesopfer zu einer Art anonymem Brei, einer Nummer in einer Tabelle, deren Total am Ende des Jahres einer betroffenen Öffentlichkeit präsentiert wird.
Man mag nun argumentieren, dass hier auch Rassismus und Xenophobie im Spiel seien, doch diese Dinge können nur einen Teil dieser Gleichgültigkeit bei uns erklären. Denn während des IRA-Bombenterrors in Grossbritannien wurde fast genau gleich berichtet und wahrgenommen: Schon wieder Tote, schon wieder Verletzte. Ja, selbst bei den ziemlich einmaligen Anschlägen von 9/11 schafften es die Opferzahlen nicht, uns irgendwie wirklich zu berühren. Geweint wird an einem Sarg, nicht an deren 4000.
Was uns damals dagegen berührte, waren Tonaufnahmen der Telefonnotrufe von verzweifelten Eingeschlossenen, die nicht mehr aus den verdammten Türmen flüchten konnten. Was uns wahrlich entsetzte, waren die Bilder jener Büroarbeiter, die sich, um nicht lebendig zu verbrennen, aus den Fenstern sprangen und vor der Fassade in ihren Tod stürzten.
Die Parallelen sind bald einmal offensichtlich: Sobald wir nicht nur intellektuell, sondern vor allem auf einer emotionalen Ebene einen Menschen als Opfer erkennen, wird aus der rein abstrakten Übung ein persönlich berührendes Erlebnis, wobei dies viel mehr über uns als über die Opfer aussagt.
Das falsche Stalinzitat (das sehr wahrscheinlich von einem Tucholsky-Zitat abgeleitet wurde), zeigt, dass nicht erst die bildversessene Gesellschaft von heute ein Problem mit dem Erfassen abstrakter Tragödien hat.
Bombenopfer Martin Richards: Nicht zu viel über ihn. Zu wenig über all die Anderen. /


Die emotionalen Bereiche des Gehirns scheinen einfach nicht die menschliche Tragweite von «anonymisierten» Katastrophen erfassen zu können, denn die Zahlen geben uns keinen Bezug zu unserem Leben, unseren Erlebnissen, unserer Biographie.
Sobald wir (und vor allem Eltern kleinerer Kinder) hingegen das Bild von Martin Richards sehen, schnürt es einem kurz die Kehle zu, stellt man sich vor, was sein Tod für seinen Vater, seine Mutter, seine Schwester bedeutet. Auch wenn wir es uns glücklicherweise nicht wirklich auszumalen vermögen, spielt sich vor unserem inneren Auge eine ganze Tragödie ab, sehen wir ein Leben, das gewaltsam und gedankenlos schon an seinem Beginn beendet wurde.
Der Einwand auf diese Betrachtungsweise kommt natürlich schnell: Hier werde durch die Medien eine schamlose Emotionalisierung betrieben, um damit Zeitschriftenverkäufe anzukurbeln, Klicks auf Newsportalen und in sozialen Netzwerken zu bekommen. Das mag stimmen, doch es stimmt ebenso, dass hier ein Kind sein Leben und eine Familie ihr Kind verloren hat.
Sinnentleerte Konflikte mit vielen zivilen Opfern sind eigentlich nur möglich, solange deren Opfer in den Augen der beteiligten Öffentlichkeit(en) als Nummern de-humanisiert und diese womöglich nicht als Menschen, sondern als Feinde - im Falle von Kindern zukünftige Feinde - wahrgenommen werden. Gesichter, Geschichten und Gefühle müssen diesen Toten vorenthalten werden. Denn wenn der Schrecken erst einmal durch konkrete Antlitze und Schicksale gespiegelt würde, sänke die Akzeptanz für lockeres Töten mit üppigen «Kollateralschäden» und brutale Terrorakte, und zwar auf allen Seiten.
Doch dies wäre nicht im Interesse der Regierungen, der Waffenhersteller, der Rohstoffmultis, der religiösen Fanatiker, der Terrorpaten, der Unterdrücker und Mörder, deren Geschäft es ist, die Klüfte zwischen den Kulturen tief und die Entfremdung hoch zu halten. So bleibt denn selbst bei uns, wo es eigentlich möglich wäre, solche Informationen über Opfer zu publizieren, das Interesse der Medien gering. Es wäre vermutlich einfach zu mühsam und kostspielig, zu riskant und langwierig und vor allem nicht kostendeckend, sich für die Erinnerung an irgendwelche Muhammads und Saïdas, Abduls und Ayschas einsetzen, die irgendwo im Hindukusch von einer Drohne beim Spielen kollateralisiert wurden.
Doch selbst wenn man den Versuch machen würde, all den unschuldigen Opfern ein Gesicht zu geben, es wäre einerseits beinahe unmöglich - vom reinen Umfang her - und unerträglich für die Medienkonsumenten, denn irgendwann stellt man ab, filtert weg, will sich der Illusion ergeben (und ergibt sich auch) das alles nicht so schrecklich sein kann, wie es ist. Ganz einfach, weil der Horror der Welt zu viel für ein Hirn ist.
Die Asymmetrie des Entsetzens wird bestehen bleiben, wir werden weiterhin auf wenige Opfer schauen und uns mit diesen Verbunden fühlen, während die anderen auch zukünftig anonym in Kleinmeldungen verschwinden, Spaltenfüller in Statistiken sein werden, derweil sie am Ort ihres Todes beweint und beklagt und ihre Mörder verflucht werden.
So kann es eigentlich bei den Berichten über die nächsten Opfer eines unweigerlichen nächsten Anschlages nur eine Folgerung geben: Über ein Opfer wie Martin Richards kann nicht zu viel berichtet werden, sehr wohl aber über viele andere viel zu wenig.