Regula Stämpfli / Quelle: news.ch / Mittwoch, 2. April 2014 / 11:20 h
Der ehemalige Bürgerrechtler Joachim Gauck hatte nämlich an der
Medienkonferenz an ersterer gezweifelt: «Die direkte Demokratie kann
Gefahren bergen, wenn die Bürger über hochkomplexe Themen abstimmen», sagte
Gauck an der Medienkonferenz im Landgut Lohn in Kehrsatz. Er sei ein
überzeugter Unterstützer der repräsentativen Demokratie, mit der Deutschland
«sehr gut fährt».
Ist doch nett, wenn zwei Politiker befreundeter Nationen sich treffen und
etwas über Demokratietheorie plaudern! Schade nur, dass weder Burkhalter
noch Gauck, Alexis de Tocqueville oder Jean-Jacques Rousseau gelesen haben. Dort
hätten die Beiden etwas bessere Argumente für und gegen die direkte
Demokratie gefunden, zum Beispiel von de Tocqueville: «Ich halte den
Grundsatz, dass im Bereich der Regierung die Mehrheit eines Volkes das Recht
habe, schlechthin alles zu tun, für gottlos und abscheulich, und dennoch
leite ich alle Gewalt im Staat aus dem Willen der Mehrheit ab. Widerspreche
ich mir damit selbst? Es gibt ein allgemeines Gesetz, das nicht bloss von
der Mehrheit irgendeines Volkes, sondern von der Mehrheit aller Menschen,
wenn nicht aufgestellt, so doch angenommen worden ist. Dieses Gesetz ist die
Gerechtigkeit. Das Recht eines jeden Volkes findet seine Grenze an der
Gerechtigkeit.»
Von de Tocqueville weiss man mittlerweile auch, dass er damit vor der
«Tyrannei der Mehrheit» gewarnt hat. Ein viel differenzierteres Argument
aber als dies Gauck mit seinem altväterlichen und sinngemässen: «Manchmal
wissen die Leute eben nicht, über was die Leute abstimmen, das sollte man
schon Experten überlassen» bot. Darum ging es bei der Initiative gegen
Masseneinwanderung nicht. Ich glaube, die Leute waren sogar sehr wohl
informiert, doch sie haben - und das eint Volk und Regierung - einfach keine
Ahnung von Rechtsstaat, Grundrechten und Gewaltenteilung.
Hätte der Bundesrat de Tocqueville eben gekannt und umgesetzt und würde er
endlich Staatsrechtler berufen, die nicht nur die Politik vermessen, sondern
sie auch denken und gestalten können, dann wäre die Initiative gegen die
Masseneinwanderung gar nie zur Abstimmung gekommen.
Gauck und Burkhalter: Hätten besser Tocqueville und Rousseau studiert, bevor sie sich zu Demokratiefragen äusserten. /


Denn sie widerspricht
dem Gesetz der Gerechtigkeit, sprich jeder verfassungsrechtlichen Grundlage.
Eine Initiative muss in der direkten Demokratie so formuliert werden, dass
sie die Gleichheit vor dem Gesetz, welche für alle Menschen im Land gilt,
nicht verletzt.
Aber eben: Weder der ausländische Gast noch die inländische Regierung hatten
gestern bei ihrem Demokratiegeplauder davon eine Ahnung, was uns zu Jean-Jacques
Rousseau bringt. Der Urdemokrat des «volonté de tous» hat diesem - politisch
viel gefährlicher verwertbar - zusätzlich den «volonté générale» zur Seite
gestellt. Der Mehrheitswillen ist bei Rousseau ebenso heilig wie das
Allgemeinwohl. Gauck meinte mit seiner Aussage, dass das Allgemeinwohl in
Deutschland durch eine repräsentative Demokratie besser vertreten sei als
durch den Mehrheitswillen. Angesichts der Geschichte Deutschlands muss ich
ihm hier zustimmen, obwohl auf Länder und auf der Ebene der Kommunen direkte
Demokratie selbst im nach wie vor eher autoritär sozialisierten Deutschland
funktioniert. Gauck hätte aber ebenso kritische Worte zu einem derartigen
Demokratieverständnis, welches schliesslich sowohl Hitler (Allgemeinwohl
gleich Führer) als auch Stalin (Allgemeinwohl durch die Diktatur des
Proletariates) in der Macht legitimiert hat, äussern können.
Zudem haben es Beide, Didier Burkhalter und Joachim Gauck verpasst, die
herrschende Marktdemokratie jenseits von Volkswillen und repräsentativer
Macht etwas zu reflektieren. Denn heutzutage wird der Kern demokratischer
Gestaltungskraft nicht durchs Volk oder durch eine Bundestagsmehrheit
verletzt, sondern durch die Herrschaft des Marktes, der, um wieder auf Jean-Jacques
Rousseau zurückzukommen, in den westlichen Ländern als von oben bestimmtes
«Allgemeinwohl» je länger je mehr die Diktatur des Geldes (es ist nämlich
nicht mal mehr der Markt) durchsetzt und gleichzeitig legitimiert. Angela
Merkels «marktkonformer Demokratie» unterscheidet sich deshalb in nichts von
Putins «gelenkter Demokratie». Und wenn wir ganz klar und hell auf die
Demokratie in den Ländern der EU schauen stellen wir fest: Mit Demokratie
haben die wenigsten politischen Eliten diesseits und jenseits der Schweizer
Grenze zu schaffen.
Glauben wir indessen Peter Sloterdijk, der immer für ein Zitat gut ist,
selbst wenn seine politischen Auffassungen in einem
rechtspopulistisch-esoterisch-altkonservativen Sumpf eigentlich kompostiert
werden sollten, dann haben Gauck und Burkhalter ihren Job perfekt erfüllt.
Denn: «Die grösste Leistung des Politikers besteht heute darin, in der
Bevölkerung die Phantasie am Leben zu halten, unter seinen Händen würden die
Dinge im Land souverän vorangetrieben.»