Regula Stämpfli / Quelle: news.ch / Freitag, 18. März 2011 / 10:19 h
Selbst nach dem vordergründigen Sieg Japans über Godzilla ist im Film nicht klar, ob die nukleare Monstrosität nicht noch einmal mit aller Brutalität zuschlagen wird.
Godzilla scheint seit dem 11. März 2011 schon fast Prophezeiung.
Kein anderes Land ausser Japan kennt soviele Motive für die apokalyptische Endzeit. Das Verrückte an dem Land ist aber der gleichzeitig unzerstörte, technisch-plastische Fortschrittsglaube. Japan ist westlichen Menschen ausser beim Sushi-Essen sowie bei Teeritualen unendlich fremd geblieben.
Ganz gleich, wie ähnlich sich die Konsumkulturen gerade der USA und Japan sind, ein grosser Graben bleibt (siehe Bericht «Japaner bleibt in Japan»). Für eine westliche Frau war Japans Frauenbild eh ziemlich unverständlich. Die in reelle Menschenkörper gefassten, kichernden Schulmädchenuniformphantasien konnten eigentlich nur erschrecken. In einer sehr berührenden Szene im Film «Babel» (2006) exhibitioniert sich eine vereinsamte junge Japanerin vor wildfremden Menschen. Ihr dringender Wunsch, endlich gesehen zu werden, übersetzt sie zunächst in ihre Verkleidung, dann in ihre vollständige Entblössung. Sie zeigt allen ihre Scham, jedem ihre Nacktheit. Selten sprach die Tragik moderner junger Konsumfrauen eine so bilderstarke Sprache. Ähnlich die Seitenblicke auf die japanische Kultur in «Lost in Translation» (2003). Ziemlich fassungslos widerspiegelt die japanische Spiel-Technikkultur à la Karaoke die innere Vereinsamung der US-amerikanischen Hauptfiguren.
All dies sind Projektionen.
Monster im Kollektivbewusstsein eines Volkes: Godzilla /


Wenn wir ehrlich sind, wissen wir über Japan neben Mitsubishi, Pokémon, Honda, Sony, Nintendo und Miss Kitty nichts. Wir verstehen die gegenwärtige stoische Ruhe nicht, wir verstehen nicht, wie das von nuklearem Massenmord gebrannte Volk die meisten Nuklearreaktoren im eigenen Land errichteten konnte. Nochmals: wir verstehen eigentlich nichts. Das Einzige, was wir verstehen und sehen sind die Rauchwolken, die unklaren Signale, das unverständliche Brabbeln über Messwerte und wir fühlen, Godzilla ist zwar da, aber nicht sichtbar.
Das wären eigentlich spannende Themen. Ich würde gerne Japanerinnen und Japaner sehen, hören, verstehen. Wie dies im arabischen Frühling der Fall war. Plötzlich sahen wir arabische Menschen wie Sie und ich. Wir hörten, was sie wollten, wofür sie demonstrierten, wie sie lebten und was sie wünschten. Das alles fehlt in diesen Tagen. Liegt es an den Medien, die über eine Naturkatastrophe technisch statt politisch berichten?
Japan ist unscharf, ist in den Medien trotz 35 Millionen Menschen in Tokio ohne Gesicht geblieben. Die japanische Katastrophe ist so still wie die Reaktorwolke, die droht. Es ist als wäre ganz Tokio schon eine nukleare Geisterstadt.
Wo sind die Gesichter, wo die Menschen? Ist diese Frage eine klassisch westlich-individualisierte Wahrnehmung gegenüber dem Anderen? Es fehlen die Gesprächsrunden mit den in die USA und Europa eingewanderten Japaner. Japans Katastrophe wird technisch abgehandelt, so geht es doch nicht! Schliesslich geht es um Menschen und nicht in erster Linie um die Reaktoren! Wo sind die kritischen japanischen Journalisten, Exilbürgerrechtler, Wissenschaftler, die in den USA und in Europa Unterschlupf gefunden haben? Wo bleibt die westlich-japanische Verbundenheit in Liebe und Politik wie «Hiroshima, mon amour» von 1959?
Fragen über Fragen und nur eine traurige eine Analyse: Die Natur und die Wirtschaft haben uns Menschen zwar physisch und via Information nahe gerückt. Weit entfernt bleiben jedoch das gegenseitige «ich kann verstehen» und «ich kann verstanden werden».