Regula Stämpfli / Quelle: news.ch / Mittwoch, 16. März 2011 / 12:39 h
Christoph Neidhardt schreibt im Newsnetz, wie er und seine Frau Tokio am 15. März verlassen haben. Spiegelonline beschreibt noch drastischer die «Wohnungsübergabe in Zeiten der Kernschmelze.» Es muss ein seltsames Gefühl sein, den Ort des teilweise jahrelangen Arbeits- und Lebensmittelpunktes von einem Tag auf den anderen verlassen zu müssen. Die Welt ist zwar globalisiert, aber bei Strahlengefahr spielt plötzlich der Pass wieder die entscheidende Rolle.
Während hartgesottene Medienberichterstatter, Fotografen sowie internationale Helfer oft an Orten verharren, die Sie und ich nicht mal in unseren Albträumen sehen möchten, ist das äusserlich intakte Tokio nun zur lebensbedrohlichen Gegend geworden. Das eigene Leben mag ein Journalist gegenüber Waffen, Milizen und sonstigen Menschenhorden riskieren, doch die unsichtbaren Strahlenmörder schreckt selbst die hartgesottensten Kämpfer für die Meinungsfreiheit ab. Dass die europäischen Journalisten, die teilweise schon aus den unmöglichsten Regionen dieser Welt berichtet haben, Japan nun so schnell wie ihren Rücken kehren, bringt etwas von der in Tokio seltsam spürbaren Endzeitstimmung in die hiesigen Redaktionen.
Wissenschafts-Realsatire
Im Vergleich dazu wirkt das Interview eines angesehenen ETH-Professor im Nachzug der Zürcher Abstimmung vom 30.12.2008 zur Atomenergie wie bittere Realsatire. Dass dieser Artikel hier zitiert wird, liegt an der viralen Verbreitung durch die Social Networks und belegt, wie Facebook und Twitter a) nicht nur nicht vergessen, sondern b) eine eigentliche Gegenöffentlichkeit schaffen und genau hinschauen. Lesen Sie z.B., wie Prof. Horst Michael Prasser die Sicherheit der Atomkraftwerke vor drei Jahren eingeschätzt hat.
Für Schnelllesende sei folgendes Zitat herausgehoben: «Leider wird es keine Nutzung der Kernspaltung ohne den Umgang mit grossen Mengen radioaktiver Stoffe geben. Doch wir haben gelernt zu verhindern, dass diese freigesetzt werden können und darauf kommt es letztlich an.»
Besonders hübsch ist die Entschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass weltweit irgendein nuklearer Unfall passieren könnte: «Probabilistische Sicherheitsanalysen kommen für KKWs der dritten Generation auf eine Wahrscheinlichkeit in der Grössenordnung von 10-7 Ereignissen pro Jahr – ein Ereignis alle 10 Millionen Jahre. Das bezeichnet jedoch lediglich die Wahrscheinlichkeit eines Kernschadens, nicht die Wahrscheinlichkeit für den Austritt von radioaktiven Stoffen, welcher eine grossräumige Evakuation nötig machen würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gebiet durch eine Kernschmelze mit grossen Mengen an Radioaktivität verseucht wird, liegt nochmals etwa zwei Grössenordnungen tiefer, also bei einem Ereignis alle Milliarden Jahre.»
Was die FB-Users zu den denkbar richtigen Schlüssen führte, dass wir a) seit Freitag um einige Milliarden Jahre älter geworden sind oder sich b) ein Tippfehler im Interview eingeschlichen hat, da der Titel über dem Gespräch lauten sollte: «Unser Wissensstand ist nahezu defekt....»
Wann ist die zweithöchste Gefahrenstufe denn gefährlich?
Spannend ist der Bericht der NZZ über die Höherstufung des Reaktorunfalls Fukushima von 6 auf 7. Obwohl die Skala nur bis 7 reicht, meint die UNO gelassen, es bestehe keine Gefahr für die Menschen. Sie und ich werden uns wohl sofort fragen: Hallo? Auf einer Gefährdungsstufe von 7 ist die Skala 6 nicht gefährlich? Diese Meldung bleibt in ihrer unwirklichen Wirklichkeit, wie leider so oft, unkommentiert.
Neben den minütlich eintreffenden Hiobsbotschaften dürfen selbstverständlich die wirtschaftlichen Eckdaten nicht fehlen. Nur: Findet eigentlich jemand angesichts der menschlichen und der realen Katastrophen in und um Tokio den japanischen Börsenstand sowie den Welthandel relevant? Und wenn ja, bringt das nicht eine unendliche Wut darüber, dass die Katastrophe von den wirklich Mächtigen zunächst in ökonomischen Terms gefasst wird? Die meisten britischen und us-amerikanischen Titel konzentrieren sich jedoch neben den Kernschmelzen sehr wohl für die Strahlungstendenzen im Hinblick auf die Weltwirtschaft. Auch da klingen die Nachrichten ebenso deprimierend wie der reale Zustand in Japan. Erstaunlich ist nur, dass die Optimisten trotzdem überwiegen, denn schliesslich hat es Japan nach seinem letzten grossen Erdbeben von 1923 schnell zur militärischen und ökonomischen Supermacht gebracht.
Spannende Nachrichten. /


Die Wallstreet kann offenbar mit einem realen nuklearen Schreckenszenario besser umgehen als mit dem unwirklichen Zusammenbruch ihrer Subprime loans. Sehr aussagekräftig im Hinblick auf die Weltwirtschaft.
Japan verdrängt Bürgerkrieg und Korruption aus den Schlagzeilen
Europapolitisch verheerend ist in dem Zusammenhang, dass die Probleme vor der Haustüre angesichts von Japan verdrängt werden. Ghaddafi, Berlusconi sowie die menschenunwürdige Behandlung der afrikanischen Flüchtlinge in Lampedusa gehen alle im Geschehen der Nuklearkrise unter.
Der G8-Gipfel lehnt die No-Fly-Zone ab und da die ganze Welt mit Strahlenfaktoren beschäftigt ist, gibt es keinen internationalen Aufschrei. China und Russland beweisen einmal mehr, dass Geschäfte mit autoritären Regimes nur den Geschäftemachern was bringen, aber mit hunderprozentiger Sicherheit nie den noch verbleibenden Demokraten.
Ach ja, fast hätten wir es vergessen. Da gab es doch noch was! Eine internationale Atomenergiebehörde, auf welche uns die Süddeutsche aufmerksam macht. Der Artikel belegt, was Politikwissenschaftlerinnen schon längst wissen, dass eine internationale Behörde ohne Zähne in einer Wirtschaftswelt mit einem Gebiss von 1000 Haifischen ebensoviel ausrichten kann wie ein Mäuschen, das auf einen durchgebrannten Reaktor pinkelt.
Erfreulich gut recherchiert hat die Aargauer Zeitung. Sie lässt den Atomexperten Walter Wildi die unüblich klaren Worte sprechen: Fukushima und Mühlenberg sind fast identisch. Besonders eindrücklich der Vergleich: «Die beschädigten Reaktoren in Japan sind von der gleichen Generation wie die AKW in Mühleberg und Beznau. Fukushima 1 ist ziemlich genau der gleiche Typ wie Mühleberg. Bei all diesen Werken geht es um die Frage, wie sich die Alterung auf die Sicherheit auswirkt. Mit den 40-jährigen Reaktoren verhält es sich ähnlich wie mit Autos. Selbst mit Nachrüstungen wird aus einem VW Käfer aus den 60er-Jahren kein Toyota Prius.»
Wildi kommt weiter zum Schluss und meint das, was Sie und ich mit unserem gesunden Menschenverstand längst schon wissen, dass Sicherheitstest bei schönem Wetter noch nichts über die Sicherheit im Falle von Unwetter oder Erdbeben aussagen können.
Zum Schluss ein medienstarker Kommentar im Auge des Tsunamis: Christian Buss hinterfragt mit Fug und Recht, wieweit eigentlich Nachrichtensendungen die Emotionalisierungsschraube gegen Erkenntnisstand einsetzen sollten (vor allem die öffentlich-rechtlichen): «Wer immer dieses Filmchen geschnitten hat - sie oder er könnte prima als DJ arbeiten: Gerade setzt das britische Pop-Kollektiv Massive Attack im Hit «Teardrop» zum grossen warmen Moll-Akkord am Piano an, da fliegt Block 1 des Atomkraftwerks Fukushima in die Luft: Und es hat Wumm gemacht, ein wohliges Gefühl breitet sich in der Magengegend aus. Und das, obwohl man doch eben das zentrale Bild der grössten Katastrophe in Japan seit Ende des Zweiten Weltkriegs gesehen hat.»
Nachrichten als gruselige Gutenachtgeschichte mit entsprechend thrilling music ... das erwartet ja wohl jeder Steuerzahler, oder? Ich frage mich nur, was der Höhepunkt dieses Musik-News-Videos dann sein wird. War es nun wirklich die Explosion des Reaktors oder werden die weniger ansehnlichen Strahlentoten dann einfach an den Clip rangehängt? Die grausige, böse und zerstörerische Fortsetzung folgt. Leider.