Regula Stämpfli / Quelle: news.ch / Mittwoch, 4. Mai 2011 / 08:23 h
Von Bildern lässt sich nie sagen, dass sie mit hundertprozentiger Sicherheit die Realität abbilden. Bilder lügen sehr wohl und zwar seit Jahrzehnten so oft und so undurchschaubar, dass wir nun oft die Wirklichkeit auch Lüge nennen.
Kaum ging die Meldung am Montag, 2. Mai übers Netz, dass Osama Bin Laden tot sei, zweifelten ganz viele am Wahrheitsgehalt dieser Meldung. Das Bild des erschossenen Bin Laden multiplizierte die Zweifel zusätzlich, da ein identisches Foto schon vor Wochen durchs Netz geisterte. Was wahr und was richtig ist, können wir nicht feststellen. Wer indessen mit einem halbwegs intakten Urteilsvermögen ausgestattet ist, glaubt nun die Meldung, dass Osama Bin Laden in einer Luxusvilla in Pakistan von amerikanischen Elitetruppen aus der Welt geschafft wurde.
Die Wahrheit setzt sich indessen nicht aufgrund des Bildmaterials durch, sondern durch die Glaubwürdigkeit des Präsidenten der USA, Barack Obama. Bilder lassen sich unglaublich manipulieren, Menschen hingegen weniger. Zudem besitzen viele Menschen noch ein Gespür für Wahrheit und Lüge. Deshalb sind alle Verschwörungstheorien, die beispielsweise lügen, der 11. September sei in Wahrheit eine Erfindung der USA ins Reich der paranoiden Wahrheitsvernichter zu verbannen. Doch wiederum sind beim 11. September nicht die Bilder, die wahres Zeugnis ablegen können für das Unvorstellbare, sondern die Menschen, die davon berichten.
Das ist der entscheidende Punkt, den wir in der grassierenden Bilderflut aufgreifen möchten. Menschen und nicht Bilder sind real. Die Sprache der Menschen kommt der Wahrheit näher, als dies Bilder «wirklich» vermögen. Wir erinnern an eines der ergreifendsten Bilder von Robert Capa aus dem spanischen Bürgerkrieg. Auch hier wurde die Wahrheit nicht einfach abgelichtet, sondern inszeniert, was die Wahrheit, die das Bild vermitteln wollte, in ein fragwürdiges Licht stellt.
Deshalb ist es wichtig für die Suche nach Wahrheit die Menschen und nicht die Bilder sprechen zu lassen, damit wir nicht völlig die Wahrheit und unser Urteilsvermögen verlieren.
Politisch hat diese Einsicht grosse Konsequenzen. Es ist beispielsweise unglaublich, dass wir von Japan zwar einige Bilder sehen, aber die Menschen kaum hören. Vielleicht haben die Japanerinnen und Japaner nichts zu sagen, können kein Zeugnis ablegen von all dessen, was ihnen eigentlich Unglaubliches passiert. Der Blog im Magazin der Süddeutschen zeigt in Bild und Sprache wirklich die für uns Europäer erschreckende Andersartigkeit der Japaner, der Politik, Freiheit, Urteilsvermögen und dem, was passiert auch eine Sprache zu geben. Ausgerechnet Japan, das uns mit seiner Bilder- und Konsumkultur so ähnlich schien, scheint stumm!
Und nur die Gewalt ist stumm, davon wusste schon Hannah Arendt zu berichten. Die mangelnde Wahrheit aus Japan erschüttert. Und weil es nur Bilder gibt und wenig sprechende Menschen, können wir die Wahrheit all dessen, was in Japan wirklich passiert, auch nicht zum Ausdruck kommen lassen.
Wir vergessen über den Bildern auch oft die Suche nach Wahrheit.
Bilder sagen mehr als tausend Worte heisst es. Das stimmt in wirklich entscheidenden Wahrheitssituationen eben nicht. Bilder sind punkto Wahrheit stumm. Bilder können Wahrheit in ihrer Unwahrheit, in ihrem Augenblick etc. zeigen, aber Bilder sind nie die Wahrheit. Die Lichtkombination entscheidet über das Verhältnis, den Winkel, die Betrachtung. Nur weil wir etwas sehen, bedeutet das nicht, dass es auch real ist. Denn das Auge ist ein verräterisches Organ - davon wusste schon Shakespeare mit seinem «Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters» zu berichten.
Die Wahrheit darf aus urmenschlichen Gründen aber nie einfach nur im Auge des Betrachters liegen. Wenn dem so ist, dann hat nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Gerechtigkeit ausgedient. Nicht was ist und was gesehen wird, ist entscheidend. Sondern wie Menschen mit dem was ist, umgehen.
Gefälschtes Bin Laden-Bild: Wahrheit existiert trotz und auch ohne Pixel /


Deshalb fehlen wohl in Japan sowohl die Worte als auch die Bilder. Denn weder sehen wir in Japan die wirkliche Wahrheit noch haben wir irgendwelche Hoffnung auf Gerechtigkeit.
In einer Welt zu leben, die so eng vernetzt ist, in welcher die Suche nach Wahrheit und das Streben nach Gerechtigkeit offenbar nicht mal mehr als Hoffnung formuliert und besprochen wird (wo ist Ai Weiwei im verdammten Business as usual?), ist unmenschlich, unwahr und ungerecht. Eine solche menschenfremde Welt gibt mehr und mehr auch all jenen Beleidigern der menschlichen Intelligenz Aufschwung. Denn die kleistern noch so gerne Sprechen und Handeln mit Klischées und stummen Bildern zu.
Sie finden Wahrheit unwichtig? Sie könnten ferner nicht liegen. Die Wahrheit ist für Menschen überlebenswichtig. Das aus dem alten Testament stammende Gebot: «Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen wider Deinen Nächsten» interpretiere ich als einen Aufruf an Menschen als Menschen, der Realität und der Wirklichkeit eine Welt, eine Sprache zu geben.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Weisse Lügen, Notlügen oder insgesamt die Beschönigung der Welt durch weniger puritanischen Besserwissereifer sind überlebensnotwendig. Doch es gilt auch hier der wichtige Masstab der Verhältnisse und der Urteilskraft. Ganz persönlich halte ich das Schlechtreden von Menschen, das Lügen von Wahrheit, insbesondere auch das Lügen klarer, politischer und historischer Wahrheiten nun echt für ein Verbrechen.
Das falsche Zeugnis hat schon viele Menschen in den Tod getrieben, die aufgrund von Verleumdung und Verrat ihr Leben nicht mehr leben durften. Ganz persönlich flippte ich schon als Kind oft aus, wenn irgendwelche dahergelaufenen Promillehirne einen x-beliebigen Schrott erzählten, den andere Menschen dann tatsächlich als wichtig und wahr erachteten. Das geht mir übrigens auch heute noch so.
Ich will nicht wie Neo in einer Matrix-Welt leben, deren Wirklichkeit eigentlich nur ein fixes Bild ist. Eine Welt, der deshalb geglaubt wird, weil die Bilder stimmen. Deshalb finde ich es völlig irrelevant, ob ich zu Bin Ladens Ermordung nun ein wahres Bild habe oder nicht. Nicht irrelevant ist, ob Bin Laden wirklich tot ist. Oder auch Ghaddafis Sohn.
Nicht irrelevant ist aber auch, dass diese zwei Toten nicht während Tagen die globalen News beherrschen sollten, sondern Platz machen müssten für andere Wahrheiten. Beispielsweise für die Wahrheit all dessen, was in Japan passiert. Oder welche Folgeschäden die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko hervorruft. Oder dass Osama Bin Ladens Tod am Wachstum von weiterem Irr- und Terrorismusglauben sowie demokratiezerstörenden Fundamentalismen aller Art nichts ändern wird.
Relevant ist auch, wie die Wissenschaften mit den Bildern umgehen. Hier lässt sich feststellen, dass die Wissenschaften schon längst ihre Suche nach Wahrheit aufgegeben haben. Denn mit ihrem völlig unkritischen Umgang mit Bildern und der verblödeten Vermessung- und Verbilderungssucht aller politischer, historischer, menschlicher Zusammenhänge bilden mittlerweile die Wissenschaften die Kardinalinstanzen für die Beseitigung der Wahrheit. Die herrschenden Wissenschaften erinnern mich an Spielbergs Holocaust-Kitsch, der so tat, als sei es genauso gewesen und der mit «Schindlers Liste» recht eigentlich die Menschen einer Erfahrung beraubte, die unmenschliche Wahrheit nachzudenken, nachzufühlen.
Bilder können dies nicht leisten, sondern allein die Sprache, die Musik, die Poesie. «Warum soll ich als Überlebender des Holocaust und im Besitz weiterer Erfahrungen des Terrors mich darüber freuen, dass immer mehr Menschen diese Erfahrung auf der Leinwand sehen - und zwar verfälscht? Das Konzentrationslager ist ausschliesslich in Form von Literatur vorstellbar, als Realität nicht. Auch nicht - und sogar dann am wenigsten - , wenn wir es erleben» meint der Nobelpreisträger Imre Kertész dazu.
Also: Bilder und Wahrheit müssen ganz sorgfältig und kritisch betrachtet werden. Bilder dürfen Menschen und deren Sprache nicht ersetzen. Bilder dürfen Menschen und Sprache ergänzen. Bilder dürfen Wahrheit sprechen, wenn sie von Anfang an ganz klar auf Wahrheit verzichten. Hand aufs Herz: War die Hochzeit von William und Kate wirklich oder inszeniert? Sie war vor allem Bild. Die traurige Wahrheit dabei ist, dass wir die Frage ob wahr oder inszeniert, gar nicht mehr wichtig finden.
Wenn Bilder zur Wahrheit gemacht werden, da die Menschen nur noch als Klischee oder in eigener Inszenierung irgendwelche Nebenrollen einnehmen dürfen, dann heben wir alles aus den Angeln, was Menschen zu Menschen und Wahrheit zur Wahrheit gemacht hat. Wer meint, Wahrheit sei nicht wichtig - bekanntes Diktum: «es lügen schliesslich alle» - , der vernichtet im Kern die menschliche Würde.
Bin Laden ist tot - so what? Solange er als Bild real die Welt bestimmt, ist er zwar wirklich tot, doch dank der herrschenden Affinität der modernen Massengesellschaften zur Lüge statt zur Wahrheit, steht er jeden Tag aus dem mittlerweile verstrahlten Meer wieder auf...