Die Bilder sprachen Bände: Wiggins, der wartete, bis Cancellara im Ziel war, genoss den Jubel seiner Landsleute. Cancellara sass derweil am Boden, mühte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Renndress und in die Rennkleidung. Der fatale Sturz im Strassenrennen vom Samstag zeitigte noch immer Auswirkungen.
Ein schwacher Trost
Es ehrt 'Spartacus', dass er sich als «harter Mann» bestätigen und seine zweite Chance in London wahrnehmen wollte. Im Nachhinein stellt sich aber auch die Frage, ob es nicht klüger gewesen wäre, nach dem Anfänger-Fehler im Strassenrennen für die Prüfung gegen die Uhr Forfait zu erklären. «Die Klassierung spielt keine grosse Rolle. Wichtig war für mich, bei den Olympischen Spielen zu starten», wollte Cancellara festgehalten wissen, «nur schon meiner Familie und all den Leuten zuliebe, die hinter mir stehen.» Das olympische Diplom für den 7. Platz stellt letztlich einen schwachen Trost dar und wird dem grossen Aufwand nicht gerecht, den Cancellara betrieben hatte, um nach dem vierfachen Bruch des rechten Schlüsselbeins Anfang April in der Flandern-Rundfahrt noch einmal in Form zu kommen.
Nach 7 km des über 44,5 km führenden Zeitfahrens wies Cancellara nur einen geringfügigen Rückstand auf Bradley Wiggins auf. Nach 18,4 km lag der Berner mit 31 Sekunden Rückstand noch an vierter Stelle. Danach wurde der Rückstand des zweifachen Familienvaters kontinuierlich grösser. Ab der Hälfte der Distanz fiel Cancellara deutlich zurück, möglicherweise auch deshalb, weil die Informationen aus dem Teamwagen ihm die Unmöglichkeit seines Unterfangens aufzeigten, wenigstens eine Klassierung auf dem Podest zu schaffen. Doch die 2:14 Minuten Differenz im Ziel zu Wiggins widerspiegeln das Leistungsvermögen Cancellaras bei guter Gesundheit in keiner Art und Weise.
Michael Albasini, der als zweiter Schweizer das Rennen gegen den Sekundenzeiger bestritt, wurde 30.
Wie aus dem Lehrbuch
Was Bradley Wiggins auf der Strecke im Südwestens Londons in Surrey darbot, war wie ein Stück aus dem Lehrbuch. Die vielen Jahre, die der Brite auf der Bahn Rennen fuhr, verliehen ihm einen der rundesten Pedaltritte des Profifeldes. Was den Oberkörper und die Aerodynamik betrifft, ist der 32-jährige Brite unübertroffen. Wiggins gewann in dieser Saison - Prologe ausgenommen - alle Zeitfahren, zu denen er antrat. Unter diesem Blickwinkel ist verständlich, dass für ihn nur die Goldmedaille zählte. Triumphe in Paris - Nizza, der Tour de Romandie, dem Dauphiné Libéré, der Tour de France und nun im olympischen Zeitfahren: Wiggins fährt, in den Rundfahrten auch dank dem Support seiner Helfer, in einer eigenen Kategorie.
Mit seiner insgesamt siebten Olympia-Auszeichnung avancierte Bradley Wiggins zum erfolgreichsten britischen Sportler bei olympischen Spielen. Er überholte den früheren Ruderer Sir Steven Redgrave (60), der im Rudern fünf Gold- und eine Silbermedaille gewann und der überdies neunmal Weltmeister wurde. Vor zwölf Jahren war Wiggins in Sydney Mitglied des britischen Bahnvierers, der zu Bronze fuhr. Eine weitere Bronzemedaille verpasste der Londoner im Madison, weil sein Partner Rob Hayles in der letzten Runde stürzte. Vier Jahre später triumphierte Wiggins in Athen in der Einzelverfolgung; er holte Silber mit dem Vierer und Bronze (erneut mit Rob Hayles) im Madison. Vor vier Jahren in Peking eroberte Wiggins Gold in der Einzel- und Mannschaftsverfolgung. Es gab aber auch die Enttäuschung im Madison, in dem er zusammen mit Mark Cavendish völlig unterging.
Kurze Hoffnung für Tony Martin
Nach 7,3 km legte Tony Martin die beste Zwischenzeit vor.
Fabian Cancellara mit Schmerzen im Ziel. /


11 km später lag der Zeitfahren-Weltmeister von Kopenhagen nur 11,2 Sekunden hinter Wiggins. Doch der in Kreuzlingen wohnhafte Deutsche durfte keine Hoffnungen hegen, den grossen Favoriten noch zu gefährden. 42 Sekunden betrug am Schluss der Rückstand. «Dieses Silber ist wie eine Goldmedaille zu werten», hielt Martin fest, der ähnlich wie Cancellara eine schwierige Saison hinter sich hat. Der Deutsche zog sich im April erhebliche Gesichtsverletzungen zu, als er am Ende einer Trainingsfahrt von einer Automobilistin 'abgeschossen' wurde. Ein Sturz in der 1. Etappe der Tour de France zog einen Handknochenbruch nach sich. Hinzu kamen je ein Raddefekt im Prolog und im ersten Zeitfahren der Tour de France.
Chris Froome komplettierte mit seinem 3. Platz das Glück der Briten. Der Gesamtzweite der Tour de France wurde mit dieser Leistung für seine loyalen Dienste belohnt, die er auf den französischen Strassen seinem Teamcaptain Bradley Wiggins angedeihen liess.
Resultate:
1. Bradley Wiggins (Gb) 50:39. 2. Tony Martin (De) 0:42 zurück. 3. Chris Froome (Gb) 1:08. 4. Taylor Phinney (USA) 1:58. 5. Marco Pinotti (It) 2:09. 6. Michael Rogers (Au) 2:11. 7. Fabian Cancellara (Sz) 2:14. 8. Bert Grabsch (De) 2:38. Ferner: 30. Michael Albasini (Sz) 5:58.