Reta Caspar / Quelle: news.ch / Donnerstag, 19. März 2015 / 08:46 h
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat letzte Wochen mit sechs zu zwei Richterstimmen seine Rechtsprechung zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen um 180 Grad gewendet. 2003 verlangte es adäquate gesetzliche Grundlagen für ein generelles Verbot, zwölf Jahre später verneint es nun die Verfassungsmässigkeit ebensolcher Gesetze und verlangt für ein Verbot eine «hinreichend konkrete Gefahr der Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität». Diese Argumentation lehnt sich an jene der Blasphemie-Paragrafen an. Auch dort wird die Störung des öffentlichen Friedens als Kriterium genommen.
Wie weltfremd dürfen RichterInnen und PolitikerInnen sein? Ist der im breiten Volk bereits als Mythos entlarvte Multikulti-Ansatz nun erst in den Richteretagen angekommen? In Zeiten, in denen sich immer mehr Menschen von Kirchen und religiösen Dogmen distanzieren, ist es absurd wenn Politiker und Richterinnen mehr Toleranz gegenüber ostentativer Religiosität im öffentlichen Raum und gar im öffentlichen Dienst einfordern.
Mit dem Kriterium der «konkreten Gefährdung» wird die gesellschaftlich brisante Frage der Integration von MuslimInnen den Schulen aufgebürdet. Das ist besonders ärgerlich und gefährlich, weil dort nicht Erwachsene gegen Erwachsene stehen, sondern - im Rahmen der staatlich verordneten Schulpflicht - besonders schutzbedürftige Kinder fremden Erwachsenen und allenfalls religiös aufgehetzten Schulkameraden ausgeliefert sind.
Wenn eine konkrete Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität seitens der Lehrkraft vorliegt, dann braucht es zudem gar kein besonderes Gesetz, dann ist eine Lehrperson sowieso untragbar. Insofern ist das Urteil keineswegs hilfreich.
Im Gegenteil. Statt Frieden zu schaffen, ist das Kriterium geradezu eine Einladung an StörerInnen, an Menschen, die ihre weltanschauliche Überzeugung über den sozialen Frieden stellen.
Kopftuch-Erlaubnis für Lehrerinnen in Deutschland ist Bärendienst an der Integration von Musliminnen. /


Eine Einladung an Hochreligiöse also, sich vermehrt dem Schuldienst zuzuwenden, dort, wo es sie sowieso hinzieht, jene Frommen, die gerne junge Seelen auf den rechten religiösen Weg bringen wollen. Eine Einladung aber auch an anders- oder nichtgläubige Eltern, die entsprechenden Lehrerinnen genau zu beobachten, das eigene Kind entsprechend zu instruieren und zu instrumentalisieren und damit das Schulklima zu vergiften.
Der Integration der Mehrheit der Menschen aus muslimischer Herkunft leistet das Urteil einen Bärendienst. Es lässt weiteren sozialen Druck zu auf Mädchen und Frauen, indem der solchermassen religionsfreundlich statt laizitär orientierte Staat sie den Sitten und Gebräuchen ihrer Väter und Männer ausliefert, statt von letzteren die Gleichheit der Geschlechter einzufordern - in Deutschland künftig also auch noch mit der Autorität von Kopftuch tragenden Lehrerinnen in staatlich finanzierten Bildungseinrichtungen.
Unbestritten ist: Religionsfreiheit bedeutet, dass etwaige Beschränkungen freier Religionsausübung einer besonderen Rechtfertigung bedürfen. Wenn nun aber eine Muslima/Nonne angibt, die Kopfbedeckung sei Teil ihrer freien Religionsausübung, dann eignet sie sich gerade deshalb nicht für den Schuldienst in einem säkularen Staat, weil sie ja in dauernder Religionsausübung befindet und weil sie - als Tiefgläubige - ihren Religionsdienst höher werten wird als den Schuldienst.
Hier zeigt sich auch die spezifische Problematik in Deutschland, wo die Verfassung ein Recht auf Religionsunterricht statuiert, wo immer noch viele Bildungs- und Sozialeinrichtungen zwar bis zu 100 Prozent staatlich finanziert aber in kirchlicher Hand und Kruzifixe in den Schulzimmern weit verbreitet sind. Entsprechend betonen die deutschen VerfassungsrichterInnen, dass eine religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates nicht mit der Trennung von Staat und Kirche gleichzusetzen und Laizität für Deutschland nicht vorgesehen sei. Es sei vielmehr eine «offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermassen fördernde Haltung» anzustreben. Weitere Klagen sind damit vorprogrammiert.
Es bleibt zu fordern, dass sich die Schweizer Rechtsprechung weiterhin an das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrecht 2001 bestätigte Kopftuchverbot an Genfer Schulen hält.
Und für uns alle gilt es, aufzupassen: Die Neutralität der Bundesverfassung gegenüber den Religionen ist ein hohes Gut. Allen Versuchen von christlicher Seite, Privilegien für überkommenes religiöses Brauchtum in der Bundesverfassung zu verankern muss entschieden entgegengetreten und bestehende privilegierende Artikel in kantonalen Verfassungen und Gesetzen müssen aufgehoben werden - ansonsten werden Religiöse aller Couleur im Namen von Religionsfreiheit und Diskriminierungsverbot ihre antilaizitären Gleichberechtigung auf dem Rechtsweg einzufordern beginnen.