Regula Stämpfli / Quelle: news.ch / Mittwoch, 30. September 2015 / 11:55 h
2011 beschloss das französische Parlament das Burka-Verbot. Dagegen klagte eine Muslimin auf Diskriminierung. Allein dies hätte eigentlich schon Anlass sein müssen, tiefgreifendere Rechtsdebatten anzustossen: Die religiös-fundamentalistische Diskriminierung der Frauen sollte durch säkularisierte Antidiskriminierungsgesetze geschützt werden. Über Kopftuch, Burka, Hjiab und all die anderen Sozialtechniken zur Entsubjektivierung der Menschen mit Menstruationshintergrund sind schon abertausende Seiten Schrott verfasst worden. Da war es erfrischend, dass der europäische Gerichtshof für Menschenrechte wenigstens in einer Frage, nämlich den Mindestanforderungen für das Zusammenleben unter Menschen, Klarheit brachte.
Erstens stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, nicht zu verwechseln mit dem EuGH, der nur für Brüssel und die europäischen Verträge und meist gegen die Rechte der Europäer zuständig ist und in Luxemburg sitzt, also erstens stellte der EGMR, quasi der «Gutmensch» unter den Gerichten, fest:
Das Verbot, auf europäischen Strassen Ganzkörperschleier zu tragen, entspricht den europäischen Menschen- und Grundrechten.
Dies ist revolutionär wichtig. Unschön daran ist nur, dass es zur Durchsetzung der Menschen- und Grundrechte ein Verbot brauchte, um einem verfassungsrechtlich verbrieften Anspruch auf Gleichheit zwischen Menschen gerecht zu werden. Zweitens stellte der EGMR fest, dass es Minimalforderungen fürs gesellschaftliche Zusammenleben gäbe: Dazu gehöre immer und auf jeden Fall die
«Erkennbarkeit des Gesichts für Mitmenschen»
, denen man im öffentlichen Raum begegne. Schön wäre es auch gewesen, der EGMR hätte weitere Minimalforderungen diesbezüglich definiert, nämlich beispielsweise der Anspruch jedes Menschen auf ein bedingungslos garantiertes Grundeinkommen. Doch dies muss erst noch eingeklagt werden.
Soweit so komplex. Der EGMR hat mit dem Burkaverbot aber die Rechnung ohne den gleichmacherischen Kapitalismus gemacht, der nicht mehr zwischen Klassen, sondern nur noch zwischen denen unterscheidet, die Kapital haben oder Kapital sind. Anders gesagt:
Dem Kapitalismus sind Menschen-und Grundrechte völlig egal, Hauptsache, sie lassen sich monetarisieren
, d.h. zu Geld machen.
So feiert deshalb der britische «Guardian» eine H&M-Werbung als Erfolg für die britische Toleranz und die vielfältige Lebensweise auf der Insel. Dies ist insofern interessant als dass der Guardian in allen anderen Themen sonst sehr kritisch berichtet und in jeder persönlichen Handlung sofort auf die nach wie vor herrschende Klassengesellschaft Grossbritanniens hinweist.
Verwirrung im Durcheinandertal moderner Lebenswelten. /


So wurde der tote Schweinskopf-Fick (entschuldigen Sie die Drastik, die nur dem Akt geschuldet ist) von Premierminister David Cameron richtigerweise als Ausdruck, Symbol und Legitimation des unfassbar grässlichen Klassensystems Grossbritannien, in dem sich die Oberschicht oft und gerne auch mit dem Verbrennen einer 50-Pfundnote vor einem Obdachlosen «vergnügt», gedeutet. In der Analyse der H&M-Werbung indessen verpasste der «Guardian» den Klassenaspekt - ein nicht unüblicher Vorgang, wenn es um die Auseinandersetzung mit den Freiheitsrechten, dem Subjektstatus, der Emanzipation von Menschen mit Menstruationshintergrund auf Seiten der Linken geht. Beim Hijab überschlug sich der «Guardian» mit der Lobhudelei für die gelungene H&M-Kampagne, die von «look chic» zu «look sheik» im Satz gipfelt: «There are no rules in Fashion but one: Recycle your clothes.»
Einmal einen Hijab und die Fashionindustrie ist entlastet? Wie war das nochmals mit den unerträglichen Arbeitsbedingungen von Frauen und Kindern in den Textilfabriken in Bangladesh, Kambodscha, China und Vietnam? Weshalb wird jeder Macht- und Klassenaspekt, sobald es um die Identitätsfragen beispielsweise von Frauen geht, einfach ausgeschaltet als ob dieser nur zweitrangig wäre in der Beurteilung von Freiheitsrechten? Was mich zu Zygmunt Baumann führt.
Zygmunt Bauman schreibt in seiner «Moderne und Ambivalenz» über die Sozial- und Kulturtechniken, die es der Gegenwart verunmöglichen, die Zweischneidigkeit von Aufklärung und Unterdrückung überhaupt zu benennen. In Werbung und Wissenschaft wird also dem Bedürfnis nach Rationalität oberflächlich nachgegeben, das dann aber nur Ignoranz, Aberglaube und Wirklichkeitsverlust mit sich bringt. Die Sprache der Aufklärung hat sich zu einer Sprache der Wahlmöglichkeit entwickelt. «Die Bestätigung der Rationalität der eigenen Handlungen und Überzeugungen wird zu einer Art Aufenthaltserlaubnis, die ständig erneuert werden muss und nur bei guter Führung erneuert wird» (S. 353 Bauman). So gibt es im öffentlichen Diskurs so etwas wie eine intellektuelle Polizei, die jede Abweichung der von ihr deklarierten Rationalität diffamiert.
So werden Macht und Abhängigkeit regelrecht verschleiert,
siehe die Klage der Muslimin und die Werbung von H&M.
Gerade die Diskussion um das Burkaverbot einerseits und die Feier der Vielfalt von Hijabs manifestieren das Durcheinandertal moderner Lebenswelten, das uns aber nicht davon entlastet, immer wieder eine Urteilskraft zu entwickeln, die wenigstens den Versuch einer akkuraten Beschreibung der Welt wagt. Eine Beschreibung, die es Menschen ermöglicht, den Zusammenhang einzelner Informationen zu verstehen und sie zu verknüpfen. Der EGMR lag beim Burkaverbotsentscheid völlig richtig, der «Guardian» mit seiner Lobhudelei zu H&M nicht und zwar aus demselben Grund: «Die gründliche, harte und kompromisslose Privatisierung aller Interessen war der Hauptfaktor, der die postmoderne Gesellschaft so spektakulär immun gegen systemische Kritik und radikalen gesellschaftlichen Dissens mit revolutionärem Potential gemacht hat. (...) Was wirklich zählt ist, dass es den Bewohnern der postmodernen Gesellschaft nicht einfallen würde, dem Staat wegen der Probleme, die sie haben mögen, Vorwürfe zu machen und noch weniger zu erwarten, dass alsbald die Heilmittel gereicht werden. Die postmoderne Gesellschaft hat sich als eine nahezu perfekte Übersetzungsmaschine erwiesen - eine, die jede bestehende und zukünftige soziale Streitfrage als private Sorge interpretiert.» (Bauman, S. 411)