Jürg Zentner / Quelle: news.ch / Montag, 22. Februar 2016 / 20:14 h
MTV hat vielleicht mehr für die europäische Einigung getan als die EU. Als ab 1987 der europäische Ableger des amerikanischen MTVs über Kabel und Satellit auch in unseren Stuben empfangen werden konnte, fühlte unsere Generation zum ersten Mal so etwas wie ein europäisches Community-Gefühl, das man bis anhin nur hatte, wenn das Eurovision-Logo erklang. MTV Europe war jedoch im Gegensatz zu Eurovision-Sendungen wie «Am laufenden Band» oder «Einer wird gewinnen» etwas für meine Generation. Und die Moderatoren hiessen nicht mehr Hans-Joachim Kulenkampff oder Rudi Carrell sondern Paul King, Kristiane Backer, Steve Blame und vor allem Ray Cokes.
Der britische Dampfplauderer avancierte mit seinen Sendungen «Ray's Request» und später «Most Wanted» zum Vorbild vieler neuer Moderatoren. Ray Cokes wurde in den frühen 90er Jahren zum beliebtesten Moderator auf MTV Europe. 60 Millionen sahen jeweils die Show «Most Wanted», die viermal pro Woche auf MTV lief. Die Konzeptlosigkeit wurde zum Markenzeichen, weil Ray Cokes Chaos in die heile, rundgeschliffene Fernsehwelt brachte.
Damit ich ihn verstehen konnte, büffelte ich in meiner Freizeit Englisch. Ich wollte über Ray Cokes genauso so lachen können wie die Kanti-Schüler. PS: Ray Cokes hat vor rund einem Jahr ein Buch über jene turbulente Zeit geschrieben, die noch viel turbulenter gewesen sein soll, als man bis anhin dachte.
Vor allem aber liefen auf MTV endlos viele Videoclips. Sie wurden zu einer eigenen Kunstform.
Ray Cokes (Most Wanted) /


Zu einer teuren, mitunter ruinösen. Einige Clips kosteten soviel wie ein Kinofilm - die Höhe der Budgets eine Frage der Ehre einer Band. Auf MTV wurden Videoclip-Premieren gefeiert wie Feiertage und via Countdown runtergezählt. Wer kann sich heute noch vorstellen, fiebrig vor dem Fernseher zu sitzen; bloss wegen eines neuen Videoclips? Eigentlich schade, kennt die digitale Generation das Gefühl der Vorfreude nicht mehr; wohl der Preis für die sofortige Verfügbarkeit.
MTV war jedoch nie bahnbrechend oder provozierend, sondern konservativ und hatte eine strengere Zensurabteilung als der Vatikan. MTV befriedigte einfach das primäre Bedürfnis der Jugend nach Musik; und das nicht mal besonders gut. MTV war nämlich nie unabhängig und gesteuert von der Musikindustrie, deren Mitarbeiter sich zu jener Zeit selbst benahmen als seien sie Rockstars.
Genauso wie sich die Plattenlümmels überschätzten, überschätzten wir wohl auch MTV. Der Sender bot am Ende lediglich die technische Plattform Videoclips im Endlos-Loop zu senden. Darum verlor MTV just an jenem Tag seine Berechtigung als die Streaming-Plattformen das Feld übernahmen. Der Untergang von MTV ist demnach bloss eine logische Entwicklung der Technologie. Es ist ein Überbleibsel der analogen Welt, schon bald ein Relikt wie alle seriellen Medien.
Der Musiksender war zwar einst der gemeinsame Nenner der Popkultur, doch nahm sich der Sender viel zu wichtig, um sich weiter zu entwickeln. Schliesslich macht Youtube auch nicht so ein Affentheater wie cool sie sind, nur weil sie coole Videos von Affen streamen.