Was einst als traditionelles Handwerk galt, wird heute von Psycholog:innen und Neurowissenschaftler:innen als Werkzeug zur Achtsamkeit erforscht. Die rhythmischen Bewegungen der Nadeln, das Fokussieren auf einen simplen, sich wiederholenden Prozess und das Greifbarmachen von Fortschritt durch jedes neue Maschenpaar erzeugen einen Zustand der Versunkenheit, der an meditative Trance erinnert. Dabei geht es nicht um perfekte Ergebnisse, sondern um den Weg - und darum, wie eine uralte Technik zum Gegenmittel für moderne Unruhe werden könnte.
Stricken hat sich längst vom Klischee der Grossmutter-Generation zum Trend unter Millennials und Gen Z gewandelt. Es wird nicht nur als Hobby, sondern als bewusste Praxis der Selbstfürsorge genutzt. Untersuchungen, darunter eine aktuelle
Studie von Nordstrand, J., Birgitta Gunnarsson, A., & Häggblom-Kronlöf, G.: «Promoting health through yarncraft: Experiences of an online knitting group living with mental illness», und
eine 2013 im Journal of Occupational Therapy veröffentlichte Studie, weisen darauf hin, dass die repetitive Motorik beim Stricken Cortisolwerte senken und die Ausschüttung von Dopamin fördern kann. Die Kombination aus sensorischer Stimulation und kognitiver Entlastung schafft offenbar einen idealen Raum für mentale Regeneration, wie neurowissenschaftliche Erkenntnisse nahelegen.
Die beruhigende Rhythmisierung
Doch was macht Stricken zu einer Form der Meditation? Zentral ist die Rhythmisierung. Ähnlich wie beim Atmen während einer Achtsamkeitsübung folgen die Hände einem vorhersehbaren, beruhigenden Takt: Nadel einstechen, Faden fassen, Masche bilden. Dieser Zyklus erfordert gerade genug Konzentration, um den Geist von kreisenden Gedanken abzulenken, aber nicht so viel, dass er ermüdet. Es handelt sich um einen Balanceakt zwischen Fokussierung und Entspannung, bei dem das Gehirn in einen Alpha-Zustand wechseln kann, der mit kreativem Flow und reduzierter Angst assoziiert ist.
Viele Strickbegeisterte berichten von einem paradoxen Effekt: Während die Hände aktiv sind, tritt der Geist in eine Art Standby-Modus. Nach einigen Minuten des Strickens vergessen sie alles um sich herum, als würde der Körper den Stress wegarbeiten, während der Kopf Pause hat. Diese Erfahrung deckt sich mit verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen. Aktivitäten, die automatisierte Bewegungen erfordern - wie Stricken, Töpfern oder Gartenarbeit -, aktivieren den parasympathischen Nervenstrang, der für Entspannung verantwortlich ist.
Eine sinnliche Gegenwelt
Ein weiterer Schlüsselaspekt ist die Taktilität. In einer zunehmend digitalen Welt, in der Berührungen auf Glasoberflächen reduziert sind, bietet das Hantieren mit Wolle eine sinnliche Gegenwelt. Die Textur des Garns, das Gewicht der Nadeln und selbst das Klicken der Metallspitzen schaffen eine multisensorische Erfahrung, die den Körper erdet. Das Material selbst wird zum Anker im Hier und Jetzt, eine Erinnerung daran, dass Menschen physische Wesen in einer physischen Welt sind - etwas, das in virtuellen Räumen leicht verloren geht.
Dabei geht es nicht um Perfektion. Im Gegenteil: Fehler sind Teil des Prozesses.
Beim Stricken lernt man, mit Frustration umzugehen, ohne sich davon vereinnahmen zu lassen. /


Eine verhedderte Masche oder ein zu straff gezogener Faden stellen die Strickenden vor die Wahl, zu korrigieren oder weiterzumachen. Diese Akzeptanz des Unvollkommenen spiegelt Grundprinzipien der Meditation wider. Beim Stricken lernt man, mit Frustration umzugehen, ohne sich davon vereinnahmen zu lassen - eine Fähigkeit, die sich auf den Umgang mit alltäglichen Herausforderungen übertragen lässt.
Soziale Vorteile
Auch die Sozialkomponente spielt eine Rolle. Strickkreise, ob online oder offline, verbinden Menschen über Generationen und Kulturen hinweg. In Berlin trifft sich beispielsweise jeden Donnerstag eine Gruppe im Café «Wolkenfaden», um gemeinsam zu werken und sich auszutauschen. Solche Treffen bieten eine seltene Kombination aus Gemeinschaft und individueller Rückzugsmöglichkeit, bei der der Fokus nicht auf dem Ergebnis, sondern auf dem gemeinsamen Prozess liegt.
Kritiker mögen einwenden, Stricken sei zu trivial, um als ernsthafte Selbstfürsorge-Strategie zu gelten. Doch genau darin liegt seine Stärke: Es ist demokratisch und zugänglich. Es braucht keine teure Ausrüstung, keine Vorkenntnisse und nicht einmal ein konkretes Ziel. Anfänger:innen können bereits mit einer simplen Kordel beginnen und spüren, wie der Prozess wirkt. Apps und Online-Tutorials machen den Einstieg heute leichter denn je, sodass Interessierte sich ohne Druck an die Technik herantasten können. Dazu einen
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Ein greifbares Ergebnis
Natürlich ersetzt Stricken keine Therapie bei schweren psychischen Belastungen. Doch als ergänzende Praxis bietet es etwas, das viele klassische Methoden nicht leisten: ein greifbares Ergebnis. Jedes fertige Stück - sei es ein simpler Schal oder eine komplexe Decke - wird zum Symbol der eigenen Investition in sich selbst. Es ist, als würde man die verbrachte Zeit sichtbar machen, was ein Gefühl von Sinnhaftigkeit vermittelt, das über den Moment hinausreicht.
In Zeiten, in denen Selbstoptimierung oft als Pflicht empfunden wird, erinnert Stricken daran, dass Entspannung kein Wettbewerb ist. Es muss nicht effizient sein oder einen Marktwert haben. Manchmal reicht es, die Hände zu beschäftigen - und den Kopf atmen zu lassen. Vielleicht liegt die wahre Kunst darin, im Tun zu sein, ohne etwas erreichen zu müssen.