Peter Achten / Quelle: news.ch / Dienstag, 6. August 2013 / 09:13 h
Nachdem die chinesische Wirtschaft drei Jahrzehnte lang jährlich im Schnitt mit 9,5% gewachsen ist und das Wachstum vor drei Jahren noch 11.3% betrug, zeigen die neuesten Daten des Nationalen Statistischen Amtes deutlich nach Süden. Wie die Zahlen für das zweite Quartal eben gezeigt haben, wuchs die chinesische Volkswirtschaft im Vergleich zum Vorjahr nur noch um 7,5 Prozentpunkte. Das entspricht exakt der von Partei und Regierung am Nationalen Volkskongress im März definierten Vorgabe. Doch viele chinesische und ausländische Nationalökonomen gehen davon aus, dass fürs Gesamtjahr 2013 die Zahl durchaus im Bereich von sieben Prozent oder gar knapp darunter liegen könnte.
Im Juli versetzte Chinas Finanzminister Lou Jiwei die internationalen Finanzmärkte sogar in helle Aufregung, als er nach dem sino-amerikanischen Wirtschaftsgipfel in Washington sich mit dem vor Journalisten geäusserten Worten zitieren liess: «Das 7%-Ziel sollte nicht als unterste Grenze betrachtet werden». Kurz darauf widersprach die parteiamtliche Nachrichten-Agentur Xinhua (Neues China) mit der Feststellung, das Wachstumsziel fürs laufende Jahr sei und bleibe 7,5%.
Die Höhe der Wachstumsrate ist in China wirtschaftlich, politisch und sozial ein hochbrisantes Thema. Lange galten acht Prozent als die magische Zahl. Nicht nur weil 8 eine Glückszahl ist, sondern weil kurz nach Beginn der Reform 1982 vom grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping die 8 auf Anraten seiner Wirtschaftsberater als die korrekte minimale Wachstumszahl definiert worden ist. Die Dengsche Frage lautete damals, mit welchem Wachstumsfaktor das BIP bis zur Jahrhundertwende vervierfacht werden könne. Dieses Ziel wurde natürlich längst erreicht und übertroffen, die magische Zahl jedoch blieb. Ein mindestens acht-prozentiges Wachstum - so chinesische Volkswirte bis zu Beginn dieses Jahrzehnts - sei nötig, um jährlich die nötigen neun Millionen neuen Arbeitsplätze zu schaffen.
Die sinkenden Wachstumszahlen sind für Partei und Regierung nicht nur wirtschaftlich sondern auch sozial Grund zur Sorge. Denn ohne «Stabilität» und «Harmonie», so das Argument, gibt es kein Wirtschaftswachstum. Schon Premier Li Keqiangs Vorgänger Wen Jiabao gab vor wenigen Jahren unumwunden zu, dass sich China «bei seinen makroökonomischen Massnahmen einem unerwartet grossen Dilemma gegenübersieht». In der Tat, China ist auf kontinuierliches Wachstum angewiesen. Die Legitimität der allmächtigen Kommunistischen Partei (KP) gründet nämlich nur noch in Sonntagsreden auf dem Marxismus-Leninismus-Mao Dsedong-Denken. Im chinesischen Staatskapitalismus - offiziell «sozialistische Marktwirtschaft chinesischer Prägung» - geht es für die Partei darum, für die «Massen» und vor allem den schnell wachsenden Mittelstand jedes Jahr ein wenig mehr Wohlstand zu schaffen und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land wenn nicht abzubauen, so doch in einem erträglichen Rahmen zu halten. Das ist die offizielle Parteilinie nach dem alten konfuzianischen Prinzip der Harmonie. Wenn keine Harmonie herrscht, nimmt Chaos überhand.
Die Sommerfrische, wo die Zukunft Chinas festgelegt wird: Strand von Beidaihe. /


Und Chaos führte schon die Kaiser zum Verlust des «Mandats des Himmels», der Macht. Die allmächtige KP, die neue rote Dynastie, will wie schon die Kaiser das Mandat nicht verlieren.
Seit der Wachablösung im November 2012/März 2013 sucht die Führung unter der Leitung von Staats- und Parteichef Xi Jinping und Premierminister Li Keqiang nach neuen Lösungen. Neben «Harmonie» und «Stabilität» wird «Nachhaltigkeit» und «Qualität des Wachstums» das vierte Reformjahrzehnt bis 2020 prägen. Doch guter Rat ist buchstäblich teuer. China steht nämlich an einem Wendepunkt. Von einer extrem von Export und Infrastruktur-Investitionen getriebenen Wirtschaft soll nun vermehrt auf Binnennachfrage und Konsum gesetzt werden. Umweltverträgliches, Ressourcen-schonendes Wachstum muss es sein. Zudem sollen Innovation, Qualität und High-tech die einfache Produktion ablösen. Mit andern Worten: China will nicht mehr nur als «Werkstatt der Welt» funktionieren, sondern soll sich durch technologische Höchstleistungen, «Made and Developed in China», auszeichnen. Oder wie es Staats- und Parteichef Xi Jinping auf den Punkt bringt: China dürfe sich nicht mehr auf die «Demographische Dividende» mit einem Überfluss an billigen Arbeitskräften, billigem Kapital und billigem Land verlassen, sondern müsse sich künftig auf die «Reform-Dividende» konzentrieren, um ein «nachhaltiges Wachstum» zu generieren.
Mannigfaltige Reformen, insbesondere des Finanz-, Banken- und Rechtssystems, sind dringend gefragt. Das allmächtige Politbüro unter dem Vorsitz von Parteichef Xi Jinping und der Staatsrat unter der Leitung von Premier Li Keqiang haben bereits erste Massnahmen, einige darunter für chinesische Verhältnisse ziemlich mutig, eingeleitet. So haben sie der Versuchung widerstanden, gleich beim ersten Abflachen des Wachstums ein Konjunkturprogramm in Form von zig Billionen Yuan aufzulegen. Zudem haben sie das rasante Kreditwachstum wenn nicht unterbunden, so doch zumindest eingedämmt.
Doch Reformen sind delikat, weil es immer Gewinner und Verlierer gibt, zumal unter Parteimitgliedern zum Beispiel in den einträglichen Pfründen der Staatsbetriebe. Wie üblich in der Volksrepublik wird der Sommer dazu genutzt, grosse Entscheidungen vorzubereiten. Unter anderem fern der Pekinger Hitze in der Sommerfrische im Badeort Beidaihe an der Bohai-Bucht. Dort tauschen verschiedene Parteifraktionen, streng abgeschirmt von der badenden Öffentlichkeit, ihre Meinung aus und suchen die Oberhand zu gewinnen. Im Herbst am Partei-Plenum in Peking wird dann entschieden. Die chinesischen «Massen» und die Welt werden erfahren, in welche Richtung sich China unter Parteichef Xi Jinping im vierten Reform-Jahrzehnt bewegen wird. Xis Regierungsdevise - «Der Chinesische Traum» - wird dann erstmals an der Wirklichkeit gemessen.