«Das Gericht hat das Schweizer System nicht verstanden», kritisiert Franz Erni, Leiter der Rechtsabteilung der Suva, in einem Interview mit der Sonntagszeitung «Matin Dimanche».
Der Gerichtshof hatte im März der Witwe eines Asbest-Opfers und ihren beiden Töchtern Recht gegeben. Die Richter in Strassburg urteilten, dass die Schweiz mit ihrer bisherigen Praxis bei den Verjährungsfristen dem Betroffenen das Recht auf einen fairen Prozess verwehrt habe.
Die Schweizer Unfallversicherung (Suva) habe ihre Schutzpflicht gegenüber dem Mann verletzt. Ebenso wie der ehemalige Arbeitgeber müsse die Suva solidarisch für dessen Tod haften.
Noch ist das Urteil der Kleinen Kammer nicht rechtskräftig. Dem Bund bleibt noch rund ein Monat Zeit, um Rekurs einzulegen und das Urteil an die Grosse Kammer weiterzuziehen. Das zuständige Bundesamt für Justiz (BJ) hat sich bislang noch nicht dazu geäussert.
Verantwortung liegt bei Arbeitgebern
Laut Franz Erni hat das Bundesamt aber unterdessen die Suva kontaktiert. «Wir haben Mitte April geantwortet, dass eine erneute Überprüfung wünschenswert wäre», sagte Erni im Interview.
Der Jurist betont, dass die Suva genau dafür geschaffen worden sei, «damit Arbeitgeber ihre Verantwortung gegenüber den Arbeitnehmern ohne Verjährungsfristen wahrnehmen, anders als dies im Haftpflichtrecht der Fall ist». Die Suva hat laut Erni bislang 750 Millionen Franken für rund 1800 Menschen aufgewendet, die an den Folgen von Asbest starben.
Forderung kam 16 Jahre zu spät
Aus Sicht des EGMR waren die Asbest-Gefahren aber bereits in den 1970er-Jahren bekannt und auch die Suva hätte davon Kenntnis haben müssen. «In dieser Zeit gab es noch keinen wissenschaftlichen Konsens über die Schädlichkeit von Asbest», verteidigt sich Erni von der Suva.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. /


Zudem habe der Bundesrat und nicht die Suva die Befugnis gehabt, eine solche Substanz zu verbieten.
Im konkreten Fall hatte der Verstorbene zwischen 1965 und 1978 beruflich Kontakt mit Asbest. Erst im Mai 2004 wurde bei ihm Krebs diagnostiziert, eineinhalb Jahr später starb er. Fünf Tage nach dem Tod ihres Mannes reichte die Witwe eine Genugtuungsforderung ein.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau und im Jahr 2010 auch das Bundesgericht wiesen die Forderung der Frau zurück. Letzteres machte geltend, dass das Verantwortlichkeitsgesetz des Bundes eine Frist von höchstens zehn Jahren vorsieht. Die Frau hätte ihre Forderung also 1988 deponieren müssen.
Bundesrat will absolute Verjährungsfrist
Unterdessen hat sich auch die Politik dem Thema angenommen. Im vergangenen November leitete der Bundesrat eine Botschaft für eine Revision der Verjährungsfrist ans Parlament weiter. Die absolute Verjährungsfrist soll für Personenschäden auf 30 Jahre verlängert werden. Zu den Personenschäden zählen auch Asbest-Schäden.
Eine Verlängerung der Verjährungsfrist begrüsst auch Franz Erni von der Suva. Zudem schlägt er die Schaffung eines Solidaritätsfonds für Opfer vor, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind.