von Patrik Etschmayer / Quelle: news.ch / Montag, 6. Dezember 2010 / 12:06 h
Denn die Zutaten umfassen all das, was für ein grosses Drama benötigt wird: Einen jungen Helden, der eine wagemutige Aufgabe bewältigen will, den Vater, der dabei eine tragische Rolle spielt und vor allem ein Millionenpublikum, das live mit dabei ist, als das Unglück passiert.
Der kollektive Live-Schock hat dem Unfall auch eine enorme Dimension verliehen, eine Dimension, welche dieser Zwischenfall eigentlich gar nicht verdient hätte. Sicher, für die Beteiligten ist es ein Drama und hat immer noch das Potential, eine Tragödie zu werden. Der Autor wünscht dem Verunfallten und seiner Familie alles Gute... doch gibt es irgend einen Grund dafür, diesem mehr Gutes zu wünschen oder über sein Schicksal mehr betroffen zu sein als über jene der seit Samstag ansonsten Verunglückten und Verletzten?
Oder wäre es zu banal? Laut einer aktuellen Schlagzeile auf Spiegel-Online gab es in Deutschland Dutzende Verletzte und mindestens zwei Tote auf den Strassen, die wegen des Wetterumschwungs vereisten und zu gefährlichen Rutschbahnen wurden. Alles, was von den Toten zu erfahren war: Es waren zwei Frauen, 51 und 63 Jahre alt, die umkamen als der Kleinbus, in dem sie sassen, ins Schleudern geriet und gegen zwei Bäume prallte. Der Fahrer und eine weiterer Mitfahrerin wurden schwer verletzt. Diese Leute starben und erlitten Verletzungen, weil sie ganz banal nach Hause wollten.
Oder die Toten, welche die Kältewelle in Polen gefordert hat? In den ersten fünf Dezembertagen starben dort 37 Menschen, erfroren. Kümmert's irgend wen? Nein. 37 Tote sind eine Statistik, eine Meldung, die vielleicht lokal mehr als nur Wahrgenommen wird. Diese Leute starben meist, weil sie – vorwiegend obdachlos – in Gartenhäuschen und leerstehenden, ungeheizten Häusern Zuflucht vor der Kälte suchten, um dort dann doch zu erfrieren.
Samuel Koch vor seinem Sturz... für uns eigentlich unwichtig und doch schaut jeder hin. /


Statt darüber entsetzt zu sein, statt zu sagen: Verdammt, das ist Europa und es erfrieren Dutzende von Menschen, bangen wir hier um einen Stuntman, der gross heraus kommen wollte, sich etwas Ruhm und viel Applaus erhoffte und dabei abstürzte. Doch er wusste um das Risiko, er wusste, dass er aus 3 bis 4 Metern Höhe wieder auf dem Boden landen müsste. Ohne dieses Risiko wäre die Wette eigentlich sinnlos gewesen, hätte keinen hinter dem Ofen hervor gelockt.
Statt sich jetzt über eine amoralische Mediengesellschaft zu nerven, können wir das auch als Beispiel dafür nehmen, wie Wahrnehmung und Realität auseinanderklaffen können, oder wie wir uns viel mehr um das Kümmern, was uns non-stop um die Ohren gehauen wird, als um das, was wirklich relevant ist. Dieses Verhalten macht stammesgeschichtlich durchaus Sinn, denn damals war das, was der Mensch am meisten wahr nahm, auch wirklich das Relevanteste, da es noch niemand schaffte, eine alternative Realität zu präsentieren.
Dass dies eine tolle Methode zum Einstellen der öffentlichen Wahrnehmung ist, haben weltweit finanzstarke Interessensgruppen schon lange erkannt. Zum Teil werden in den Medien Themen mit Gerüchten lanciert, zum Teil werden – wie in den USA mit Fox-News und in Italien – gleich ganze Nachrichtennetzwerke, die aus einer alternativen Realität berichten, etabliert. Dieses Erzeugen einer alternativen Realität, die nicht mehr viel mit jener auf unserem Planeten zu tun hat, erfordert zwar viel Geld, aber dieses ist vorhanden und wird gerne eingesetzt, vor allem weil eine entsprechende Manipulation der Öffentlichkeit und deren Stimmverhalten den Weg zu noch viel mehr Geld und Macht durch gefällige politische Entscheidungen öffnet.
Der Fall «Wetten dass...?» ist ein wunderbares Modell dafür, wie die massenhafte Wahrnehmung dafür sorgen kann, dass ein an sich unwichtiges Ereignis wesentlich relevantere Dinge überstrahlen kann. Man stelle sich nur vor, der Sturz wäre ohne das Live-Publikum passiert: Das Drama würde lediglich in den Randnotizen und im Familienkreis statt finden.
Bei «Wetten dass...?» wurde immerhin die Sendung abgebrochen (etwas, das in Italien kaum passiert wäre, wenn man von ähnlich dramatischen Live-Ereignissen im dortigen TV ausgehen kann) und versuchte, das Spektakel abzuwürgen. Doch für alle Manipulatoren der öffentlichen Meinung ist dieser Unfall ein weiteres Beispiel dafür, dass nicht die Relevanz die Wichtigkeit eines Ereignisses bestimmt, sondern nur, wie viele dabei fasziniert zu sehen.