Peter Achten Peking / Montag, 7. Dezember 2015
Rauchen im Restaurant wird seit neuem in China schwer gebüsst. Draussen in der vermeintlich frischen Luft erst stockt jedoch der Atem. Eine Spurensuche im Pekinger Smog und den Tagen danach.
Luftverschmutzung in China ist ein Dauerthema. Auch in dieser Kolumne. Und jetzt erst recht während des Pariser Klimagipfels. Kommentatoren und Auslandskorrespondenten zogen einmal mehr über Pekings dreckige Luft her, dass es seine Art hatte. Ja, es war schlimm, dass aber neun andere Städte im Reich der Mitte noch schmutzigere Luft hatten, blieb unerwähnt. Immerhin wurde in Agentur-Meldungen nebenbei vermerkt, dass die Einwohner von Indiens Hauptstadt Delhi ebenso stark von Smog betroffen sind wie Peking. Der kleine feine Unterschied: die indischen Behörden tun rein gar nichts, während die chinesischen Stadt- und Landesväter seit längerem intervenieren mit Massnahmen und viel Geld.
Bad News is Good News
Die Nachricht aus Peking und Nordchina kam zum Auftakt des Pariser Klimagipfels gelegen, denn im Westen, wo es Pressefreiheit gibt, wird nach dem Grundsatz «Good News is no News - Bad News is Good News» gearbeitet. So kam es denn, dass der böse Umweltbube China einmal mehr von den reichen Industriestaaten an den Pranger gestellt werden konnte. Gleichzeitig konzedierten westliche Experten und Medien, dass China im Unterschied zu Kopenhagen vor sieben Jahren «nicht mehr so stur» sei. Denn in der Tat, der altgediente Verhandlungschef der Volksrepublik Xie Zhenhua gab am Pariser Gipfel zu Protokoll, dass «China auf eine verbindliche Einigung hofft». Das war nicht, wie neunmalkluge westliche Klimaexperten triumphierend feststellten, eine «Umkehr in der chinesischen Politik». Ein wenig Recherche hätte genügt, um zu wissen, dass eine bewährte Politik ganz einfach fortgesetzt worden ist.
Dunkel und bedrohlich
Was allerdings zu Beginn der Pariser Klimaverhandlungen in Peking sich zutrug, war buchstäblich dunkel und bedrohlich. Während vier Tagen verschlimmerte sich die Situation täglich, ja stündlich. Am ersten Smog-Tag war für uns Pekinger alles mehr oder weniger normal, Winterluft eben, mit nicht einmal 200 Mikrogramm Feinstaub (PM2,5) pro Kubikmeter. Im Schweizerischen Bern, so ist zu vermuten, wäre längst der Notstand ausgerufen worden, denn der von der UNO-Weltgesundheitsorganisation WHO definierte Maximalwert liegt bei 25 Mikrogramm. Doch es kam noch schlimmer. Am vierten Tag stellten die Behörden die Zahl 500 ins Netz, mehr misst der amtliche Feinstaubindex nicht. Die amerikanische Botschaft mass 689 Mikrogramm. In einem Pekinger Vorort sollen gar 986 Mikrogramm festgestellt worden sein, und auf einem von der Volkszeitung veröffentlichten Bild war eine Zahl über 1000 vermerkt. In der Wohnung Ihres Korrespondenten wurden am schlimmsten Tag trotz Reinigungsfiltern immer noch 250 Mikrogramm pro Kubikmeter gemessen. Wie hoch die tatsächliche Zahl auch immer gewesen sein mag, das Atmen fiehl schwer und schwerer. Die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua (Neues China) brachte es in einem Meldungstitel auf den Punkt: «Atemlos. Sprachlos».
Alarmstufe Orange
In den sozialen Medien entfaltete sich ein Shit-storm chinesischer Prägung, das heisst nicht ganz so rüde wie im Westen, aber auch nicht weniger deutlich. Ein Blogger kreierte zur Freude von uns Ausland-Korrespondenten das treffliche Bonmot «Airpocalypse Now». Dass die Pekinger Stadtregierung nicht die oberste der vierstufigen Alarmstufe Rot ausrief, verstanden viele nicht. Dies sei, so folgerten chinesische Blogger und Auslandsjournalisten unisono, mit Absicht geschehen, denn sonst hätte man Schulen, Universitäten, Fabriken schliessen und den Strassenverkehr halbieren müssen. Das wollten die Stadtväter aus wirtschaftlichen Gründen nicht zulassen. Für die Stadtregierung wiederum ist klar, dass nur nach drei Tagen mit Werten von 500 Mikrogramm oder mehr die Alarmstufe Rot verhängt werden könne. Deshalb blieb es bei der zweithöchsten Alarmstufe Orange, gefährlich also für Kleinkinder und Alte. In einem war man sich in den sozialen Medien einig: die chinesische Führung im Regierungs- und Parteizentrum Zhongnanhai, der neuen verbotenen Stadt, könne dank kostspieligen Luftreinigungsgeräten glasklare Luft höchster Qualität atmen. Dieses Faktum wurde gegen «die da oben» mit ironischen bis zynischen Bloggs auf sämtlichen sozialen Medien bedacht.
Der vierte Tag war der schlimmste. Weit über 500 Mikrogramm Feinstaub por Kubikmeter verdüsterte die Stadt. Nie wurde es heller als in der späten Abenddämmerung. Die Sichtweite betrug gerade noch 150 Meter. Die Kliniken waren mit Atemlosen, vor allem Kleinkindern und Alten, überfüllt, Autobahnabschnitte wurden gesperrt, Flugzeuge konnten teilweise nicht starten und landen. Obwohl kaum jemand eine Atemmaske übers Gesicht streifte, waren PM2,5-Masken bei den Supermärkten ein Verkaufsschlager. Kurz, der vierte Pekinger Smogtag war gespenstisch, unwirklich, bedrohlich. Airpocalypse Now eben.
Olfaktorische Reminiszenzen
Die Luft roch ganz spezifisch nach Pekinger Winter mit einer leichten Duftnote von Kohle. Das olfaktorische Gedächtnis Ihres Korrespondenten erinnert sich an klimarelevante Gerüche der Vergangenheit. Ende der 1940er Jahre stank die Basler Chemie flächendeckend über Kleinbasel zum Himmel, und der Rhein war eine farbig glitzernde Kloake aus blutroten Abwässern vom Schlachthaus und mehrfarbigen Abwässern der Chemie. Ende der 1950er Jahre beim Studium in London war der berühmt-berüchtigte Smog etwa so wie heute in Peking. Wir Europäer und Amerikaner sollten uns bei dieser Gelegenheit einmal fragen, wie lange wir denn gebraucht haben, um den Dreck in der Luft, im Wasser und in der Erde nur einigermassen zu reinigen. Jahrzehnte. Eben.
Mitte der 1980er Jahre in Peking dann roch es zum Wintereinbruch nach Kohl, der in tausenden von Lastwagen in die Stadt gekarrt und dort subventioniert an die Bewohner verkauft wurde. Der China-Kohl Bai Cai war damals den ganzen Winter über das einzige Gemüse. Der Kohl roch gut. Weniger gut stieg der Geruch von Kohle in die Nase. Hunderttausende feuerten mit Briketts in den Innenhöfen ihre kleinen Heizöfen. Schwarze Schleier durchzogen die Stadt. Mit Kohle wird noch immer gefeuert, doch heute zentral in Stadtheizungen. Doch trotz grossen Bemühungen um Alternativ-Energie (Wind, Sonne, Atom) und massiven Investitionen - ein mehrfaches der USA - wird Kohle in den nächsten Jahrzehnten weiter der entscheidende Energieträger in China bleiben. China verbraucht derzeit so viel Kohle wie die ganze restliche Welt zusammen. So verwundert es nicht, dass das Reich der Mitte weltweit zum grössten CO2-Emittenten geworden ist. Zwei Drittel allen Stroms wird mit Kohlekraftwerken generiert.
Grünes Wachstum
Und dann die Autos. Obwohl mit gleichwertigen oder gar schärferen Abgasvorschriften als in Europa bedacht, macht es mittlerweile die Masse aus. Beispiel Peking: vor 15 Jahren verkehrten auf den Strassen der Hauptstadt noch nicht einmal eine halbe Million Autos. Heute sind das rund sechs Millionen. In ganz China verkehrten 1988 insgesamt 400'000 staatliche Autos. Im Jahre 2003 waren es dann schon zehn Millionen, meist Privatfahrzeuge. 2014 schliesslich schwoll die Blechlawine auf 154 Millionen Stück an. Tendenz rapide steigend. So hat China unterdessen Amerika als grösste Dreckschleuder der Welt abgelöst. Im Unterschied zu Amerika investiert jedoch China sehr viel mehr, um Luft, Wasser und Erde zu reinigen.
Chinas Chefunterhändler in Paris, Xie Zhenhua, weiss, wovon er redet. Der heute 66 Jahre alte Spitzenmandarin war von 1993 bis 2005 Vorsitzender der chinesischen Umweltbehörde und setzte sich schon damals für eine Wirtschaft mit «grünerem» Wachstum ein. Auch als Mitglieder der mächtigen Reform- und Entwicklungs-Kommission war Xie stets ein «Grüner» unter Roten. Schon Staats- und Parteichef Jiang Zemin (1989-2002) jedoch war klar, dass es kein wirtschaftliches Wachstum und keinen sozialen Fortschritt ohne Umweltschutz und pfleglichen Umgang mit natürlichen Ressourcen geben kann. Seit über drei Jahren ist nun unter Parteichef Xi Jinping der Übergang zu einem «nachhaltigen» Wirtschaftswachstum im Gang, also weg von der extremen Export- und Investitionsabhängigkeit, hin zu mehr Innovation, Konsum, Service und Umweltschutz. Xi drückte dieser Politik den Stempel «Das Neue Normale» auf.
Keine Vorschriften
China verpflichtet sich, bis spätestens 2030 den Klimagas-Ausstoss zu reduzieren. Ab 2017 will China auch den Handel mit Klimagas-Emissionspapieren einführen. Ähnlich wie Washington für sich lehnt auch China verbindlichen Emissionsgrenzen für Entwicklungs- und Schwellenländer ab. Das Argument der Entwicklungs- und Schwellenländer: die heute reichen Industriestaaten haben seit Beginn der Industriellen Revolution vor über 200 Jahren die Welt hemmungslos und ohne Rücksicht auf Verluste verdreckt und ausgebeutet, und heute wollen ebendiese Länder Vorschriften machen. Wie das Beispiel Chinas zeigt, sind sich die neuen Länder in der Weltwirtschaft durchaus ihrer Verantwortung bewusst. Und Peking handelt stärker und effektiver als die USA. Die Schwellen- und Entwicklungsländer brauchen keine moralischen Klima-Lektionen aus dem Westen.
Die bange Frage blieb: Kann es nach dem vierten Smogtag in Peking noch schlimmer kommen? Die Meteorologen beruhigten und schürten Hoffnung. Ein eisiger Wind aus Zentralasien und der Wüste Gobi sei im Anzug und könnte über Nacht den dunklen, grau-braunen Smog weg pusten. Und so war es. Der Tag bricht an. Die Sonne am glasklaren blauen Himmel. Sicht bis in die westlich gelegenen «Duftenden Berge», Kaiserwetter sozusagen. Gerade einmal noch 14 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter. Ein Wert, der selbst in der sauberen Schweiz und vornehmlich im Luftkurort Zürich wohl noch Entzücken auslösen würde.
Zynischer Euphemismus
Die vier glasklaren Pekinger Tage sind wohl auch ein Fingerzeig an den Pariser Klima-Gipfel. Alles ist möglich. Oder um es etwas zynisch und auf gut Schweizerdeutsch zu formulieren: «Nach em Räge schiint d'Sunne»..... Mit diesem Happy-End hört leider für die Pekinger die Geschichte nicht auf. Denn nach vier schlimmen und nach vier herrlichen Tagen folgte der Sonntag, der neunte Tag. Die Sonne war zwar, wenn auch schleierhaft, noch immer deutlich zu sehen. Der Feinstaubindex jedoch signalisierte unbestechlich wieder 169 Mikrogramm pro Kubikmeter. Alles nicht so schlimm, denn obwohl der WHO-Maximalwert 25 Mikrogramm pro Kubikmeter beträgt, belegt die Stadtregierung den 169-Zustand mit dem Euphemismus «leicht verschmutzt».