Peter Achten / Montag, 1. Februar 2016
Vietnams alter Parteichef Nguyen Phu Trong ist alt. 71 Jahre alt. Doch die Pflicht ruft. Der alte ist deshalb auch der neue Parteichef.
Vietnam war einst in den 1990er-Jahren der «kleine Drache» Südostasiens, wo analog zu den Drachen Südkorea, Taiwan, Hong Kong und Singapur die Wirtschaft brummte. Nach der asiatischen Finanz- und Wirtschaftskrise 1997/98 wurde es still um das vermeintliche Boom-Land. Doch klamm und heimlich - abseits medialer Aufmerksamkeit - entwickelte sich und wuchs das Land wirtschaftlich stetig, zwar nicht mit zweistelligen Raten wie beim grossen Nachbarn China, doch immerhin stets mit über fünf Prozentpunkten pro Jahr. Die Öffnung - Doi Moi - begann 1986 mit etwas Verzögerung zum nördlichen sozialistischen Genossen. Auch in Vietnam erfolgte die erstaunliche wirtschaftliche Aufholjagd unter Führung der allmächtigen Kommunistischen Partei. Doch ungleich den Pekinger Freunden war und ist die Kontrolle bei den Hanoier Genossen etwa des Internets und der Medien etwas geringer, und innerhalb der Partei werden die unterschiedlichen Positionen für die Öffentlichkeit eine Spur transparenter kommuniziert.
Dynamische Volkswirtschaft
Der Höhepunkt des Parteilebens ist jeweils der alle fünf Jahre abgehaltene Parteitag. Dieses Jahr wurde er mit besonderer Spannung erwartet, weil der 71 Jahre alte Parteichef Nguyen Phu Trong die Alterslimite längst überschritten hatte. Viele vermuteten, dass Nguyen Tan Dung, der sich seit zehn Jahren als Premierminister erfolgreich als Wirtschaftsreformer profiliert hatte, aktiv den höchsten Posten Vietnams anstrebte.
Vietnams Wirtschaft hat tatsächlich in den letzten Jahren mit verlässlich hohen Wachstumsraten zwischen fünf und acht Prozent brilliert und ist so zur wohl dynamischsten Volkswirtschaft Südostasiens geworden. Premier Dung hat das Land in die Welthandels-Organisation WHO und die von den USA geführte Trans-Pazifische-Partnerschaft (TPP) geführt. Exporte stiegen an, die Investitionen expandierten rasant. Kurz, das Land mit mittlerweile rund 95 Millionen Menschen wurde von der KP von grosser Armut in bescheidenen Wohlstand geführt. Allerdings ist ähnlich wie in China die Ungleichheit zwischen Stadt und Land, Arm und Reich angewachsen. Nach dreissig Reform-Jahren strebt Vietnam nun - wiederum ähnlich wie beim grossen nördlichen Nachbarn - ein neues Wirtschaftsmodell an. Parteichef Trong formuliert es so: «Wir müssen unser Modell für das Wirtschaftswachstum erneuern, unsere Wirtschaft umstrukturieren, Industrialisierung und Modernisierung stärken und uns zu einer Wissensgesellschaft entwickeln». Vor 1510 Delegierten aus den 63 Provinzen versprach Trong, dass sich Vietnam noch weiter international integrieren werde und im Innern mit noch mehr Reformen vorankommen wolle.
Zielvorgabe
Die Zielvorgaben bis ins Jahr 2020: ein jährliches Wachstum von 6,5 bis sieben Prozent und eine Reduktion der Arbeitslosenquote von zehn auf vier Prozent. Besonders viele Jugendliche sind ohne Job. Das bringt die Partei in Nöte. Denn über fünfzig Prozent der Bevölkerung ist unter dreissig Jahre alt, hat keine Beziehung zu und kein Interesse mehr an ihr, wie Eltern und Grosseltern, die den Unabhängigkeitskrieg gegen die Franzosen und dann den Vietnamkrieg - den die Vietnamesen den amerikanischen Krieg nennen - erlebt und erlitten hatten. Die junge Generation ist nicht an der KP interessiert und schon gar nicht am eben in Hanoi zu Ende gegangenen Parteitag. Die Partei muss dem Rechnung tragen, denn die Macht und mithin die politische Stabilität ist in Gefahr.
Parteichef Trong gilt als konservativer Reformer, wird aber immer wieder als Garant der politischen Stabilität gelobt. Premier Dung hingegen hat den Ruf als zupackender Reformer, der zählbare Resultate vorweisen kann. Allerdings hat unter Dung auch Korruption und Vetternwirtschaft sowohl in der Verwaltung als auch in der immer wichtiger werdenden Privatwirtschaft markant zugenommen. Beide Spitzen-Politiker sind - unter dem Strich - also Reformer.
Inselstreit
Was beide unterscheidet ist das Verhältnis Vietnams zu China. Der Inselstreit im Südchinesischen Meer vergiftet die gegenseitigen Beziehungen seit langem. Dung wird von Beobachtern ein etwas dezidierterer Standpunkt gegenüber China attestiert als Trong. Doch man sollte sich nicht täuschen. Auch Trong verteidigt in diesem Streit um Felsen und Inselchen mit vermuteten reichen Öl- und Gasvorkommen entschieden die Haltung Vietnams.
Ähnlich wie China reklamiert Vietnam «historische» Ansprüche auf die Felsbrocken entlang der strategisch wichtige Handelsstrasse, über die vierzig Prozent des Welthandels abgewickelt werden. Das Verhältnis zu China war aber stets heikel, seit Jahrtausenden sozusagen. Noch heute beklagen sich viele Vietnamesinnen und Vietnamesen über die rund tausend Jahre «chinesischer Besetzung». Vom ersten Jahrhundert vor bis ins neunte Jahrhundert nach Beginn unserer Zeitrechnung wurde der Norden Vietnams von China regiert. Vietnams Kultur basiert auf der chinesischen. Dass ausgerechnet vor dem Parteitag die berühmteste Schildkröte Vietnams, Cu Rua, gestorben ist, unterstreicht das poröse sino-vietnamesische Verhältnis. Cu Rua war weit über 120 Jahre alt und lebte im Hoan Kiem See im Zentrum Hanois. Cu Rua wird von Vietnamesen mit jener mythischen Schildkröte in Zusammenhang gebracht, die den Herrscher Ly Tai To im 15. Jahrhundert unterstützt haben soll, die chinesischen Invasoren zu vertreiben. Der Tod der Schildkröte wird in Hanoi als schlechtes Omen gedeutet.
Asiatisches Phänomen
Dass die Beziehungen zum alten Todfeind Amerika sich in den letzten zwanzig Jahren stets verbessert haben, ist nicht nur ein vietnamesisches, sondern ein asiatisches Phänomen. Wenige Staaten sagen das offen: Amerika als pazifische Macht ist in Asien als Gegengewicht zu China hoch willkommen. In Vietnam gilt nun Premier Dung als eher amerikafreundlich, Trong dagegen ist leicht vorsichtiger, doch immerhin hat er 2015 die USA besucht. Tatsache jedenfalls ist, dass die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Beziehungen zu den USA ständig ausgebaut werden.
Am Ende des Parteitages in Hanoi blieb fast alles beim alten. Premier Dung hat keine Mehrheit gefunden, Parteichef Trong hat sich durchgesetzt. Der 71 Jahre alte Funktionär liess sich noch einmal für eine fünfjährige Amtszeit bestätigen. Trong sagt warum: «Mein Alter ist hoch, meine Gesundheit limitiert, mein Wissen ebenfalls. Ich habe um Rücktritt gebeten. Aber wegen der von der Partei aufgebürdeten Verantwortung muss ich meine Pflicht erfüllen, und ich mache mir Sorgen, weil die auf mich zukommende Arbeit sehr schwer sein wird.»
Allerdings wurde das oberste Organ der kollektiven Parteiführung, das 19 Mitglieder zählende Politbüro, um über die Hälfte erneuert. Der Gouverneur der Zentralbank, Nguyen Van Minh - international gepriesen wegen seiner Geldpolitik - hat es ebenso geschafft, wie der in den USA ausgebildete Aussenminister und der Vize von Premierminister Dung. Interessant auch, dass Dungs 40 Jahre alter Sohn Nguyen Thanh Nghi auch im Politbüro sitzt. Alles in allem eine leicht verjüngte, ausgewogene, Stabilität versprechende kollektive Führung.
Politisch korrekt
Auch ein grosser Teil der 197-köpfigen Zentralkomitees ist mit jüngerem Personal ersetzt worden. Premier Dung - 66 Jahre alt - wird an der Nationalversammlung im März nach zehnjähriger Amtszeit aus Altersgründen zurücktreten. Als Nachfolger gilt das neue Politbüromitglied und Dungs bisheriger Stellvertreter Nguyen Xuan Phuc als gesetzt. Parteichef Trong gab am Ende des Kongresses nochmals den politisch korrekten Ton an: «Das Zentralkomitee wird zusammen mit der Partei, dem Volk und der Armee die marxistisch-leninistische Doktrin und die Ideologie Ho Chi Minhs weiterentwickeln». Politisch inkorrekt aber geduldet meldete sich Planungsminister Bui Quang Vinh zu Wort: «In den vergangenen siebzig Jahren haben sich die Strukturen und Methoden der Partei, des Staats und der staatlichen Organisationen praktisch kaum verändert.» Dann setzte Genosse Vinh noch eins drauf: «In den vergangenen fünf Jahren haben wir zwar Wirtschaftsreformen durchgeführt und beträchtliche Ergebnisse erreicht, aber politische Reformen gab es nicht.»