Regula Stämpfli / Quelle: news.ch / Mittwoch, 27. April 2011 / 08:49 h
Das Erstaunliche dabei ist, dass wir in Belgien ansässigen Menschen unser regierungsloses Land gar nicht wirklich zur Kenntnis nehmen. Weder im guten noch im schlechten Sinne. Business findet as usual statt, der belgische Kommissionspräsident der Europäischen Union hat letztes Jahr das von Beaudelaire zutiefst gehassten Land ohne grosse Nebengeräusche durch die europäische Präsidentschaft geführt und die 2008 vom damals noch existierenden Staat geretteten Banken Fortis und Dexia zahlen weiterhin die Löhne, verwalten weiterhin die Zinsen der zahlreichen hier ansässigen EU-Beamten und Beamtinnen sowie der sich streitenden Flamen, Wallonen und Brüsseler.
Ehrlich gesagt spielt die belgische Regierung für uns Brüsseler eigentlich nie die entscheidende Rolle. Wir leben in unserer Stadt für unser Land ähnlich atypisch wie die New Yorker in den USA. Bruxelles hat mit Belgien mittlerweile soviel zu tun wie das köstliche Orval mit einem billigen Budweiser: beides zwar Bier, doch ein himmelhoher Qualitätsunterschied. Brüssel ist international, elegant, charmanter als jede französische Stadt, dazwischen flämisch-stammtischig oder wallonisch-kolonial, klar nordafrikanisch geprägt und oft höflich-distanziert englischsprachig.
«L'état c'est moi» krächzt hier nur der etwas unangenehme Nachbar Sarkozy, während wir nach einem Jahr Staatskrise lediglich antworten: «L'état c'est quoi?» Brüssel lebt nämlich dank seinem ausgeprägten Föderalismus, der allein die europäische Hauptstadt in 19 Gemeinden teilt, seit über 12 Monaten angenehm und ohne die ständige Präsenz der unappetitlichen Neuen Flämischen Allianz. Brüssel ist seit einigen Jahren und in einigen Gemeinden grün regiert und hey, grün heisst hier ausschliesslich und geniesserisch: Lebensqualität.
Zum erstenmal seit Jahrzehnten kann man in dieser Stadt wieder Velofahren ohne gleich seinen eigenen Selbstmord zu planen.
Lebensqualität auch - oder erst recht - ohne Regierung: Belgiens Hauptstadt Brüssel
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Zwar erstickt man zur Hauptverkehrszeit immer noch fast an einer Diesel-Vergiftung, doch glücklicherweise lässt sich alles mit einem kühlen Stella Artois runterspülen. Zudem ist das Wetter in Brüssel seit Wochen so unendlich schön, dass ich zum erstenmal in all den Jahren verstehe, weshalb diese Stadt ausser der Janneke Pis und dem Manneken Pis zu den beliebtesten Touristenattraktionen Europas gehört.
Wenn wir Brüsseler also ganz ehrlich sind, dann hoffen wir trotz dem Wissen, dass eine Demokratie sich ohne Regierung auf die Dauer selber abschafft, innig auf ein weiteres Jahr Staatskrise. Denn die Vorstellung, die Neue Flämische Allianz könnte repräsentative Posten nicht nur in Belgien, sondern auch auf dem europäischen Parkett einnehmen, verdirbt jeder Bruxelloise ihren exzellenten salade de chêvre chaud im Le Pain Quotidien.
Falls es entgegen meiner Einschätzung in den nächsten Monaten doch noch zu einer belgischen Regierung kommen sollte, müssten wir Brüsseler uns aus unserer politischen Lethargie in Sachen Nationalstaat wieder erheben und auf die Strasse gehen. Denn dann ginge es uns wie den zerschlagenen bürgerlichen, intellektuellen und journalististischen Kräften in Ungarn, die von einem Regime umgepolt werden, das nicht nur wie aus dem letzten Jahrhundert redet, sondern auch innerhalb der Europäischen Union einen Rassismus salonfähig macht, der genau wie die Katastrophe des letzten Jahrhunderts beginnt.
So absurd es klingen mag: Belgien ist seit einem Jahr ohne Regierung. Belgien ist damit in einem für die Demokratie unhaltbaren Zustand. Doch wie es dem belgischen Surrealismus entspricht ist Belgien seit einem Jahr ohne Regierung wohl demokratischer, freiheitlicher und europäischer als es je mit einer Regierung sein könnte.