von Patrik Etschmayer / Quelle: news.ch / Montag, 18. Januar 2010 / 11:28 h
Die UNO redet von der grössten Katastrophe seit Bestehen der Organisation. Und die täglich immer schlimmer werdenden Meldungen bestätigen die Befürchtungen. Strassen, auf denen Leichen wie Reisig auf einem Waldweg liegen, Massengräber, in denen die Toten notdürftig verscharrt werden und blanke Verzweiflung in den Gesichtern jener, die das Beben überlebt haben.
Gleichzeitig läuft eine der grössten Hilfsaktionen an, die die Welt je gesehen hat. 10'000 Helfer will alleine die USA schicken. Doch ein Grossteil der Hilfsgüter steckt am Flughafen von Port-au-Prince fest. Die in Haiti ohnehin miserable Infrastruktur wurde durch das Beben praktisch ausgelöscht und die Regierung scheint nicht mehr zu existieren, Banden von Kriminellen versuchen, die Machtvakuum auszufüllen.
Es ist schwierig, Distanz vom gegenwärtigen Elend zu gewinnen und selbst wenn einem dies gelingt, wird das, was man sieht, nicht besser oder schöner. Eines der ärmsten Länder der Welt wurde soeben um das meiste, was es noch hatte, gebracht.
Hispaniola, deren westlicher Teil von Haiti eingenommen wird, war eine der ersten von Christoph Kolumubus für die spanische Krone entdeckten Inseln. Das Gebiet von Haiti war in der Folge von Spanien und Frankreich umkämpft, bis es 1697 zur anerkannten französischen Kolonie wurde. Die Urbevölkerung war schon vorher so gut wie ausgelöscht worden.
In der Folge wurden Plantagen angelegt und grosse Mengen an afrikanischen Sklaven importiert, ein Menschenhandel, der das damals Saint Domingue genannte Haiti zur wohlhabendsten Kolonie Frankreichs machte – wobei die 90% schwarzen Sklaven nichts davon hatten, ausser harter Arbeit ohne irgendwelche Rechte. Die Erschütterungen der französischen Revolution 1789 erreichten auch die Kolonie, in der es schon zuvor immer wieder Sklavenaufstände gegeben hatte.
Die nachfolgenden Wirren brachten Kämpfe von aufständischen Sklaven, Franzosen und Engländern und schliesslich einen Sieg der Schwarzen, deren Befreiung, die Vertreibung der Weissen von der Insel, die Ernennung eines der Anführer zum Gouverneur, die Rückbesetzung durch Napoleons Truppen und schliesslich, 1803, Napoleons erste militärische Niederlage. Was folgte, waren noch Jahrzehnte der Wirren, bei denen zeitweise auch die heutige Dominikanische Republik zu Haiti gehörte.
Doch das Land kam nie mehr zur Ruhe: Kaiser und Diktatoren, Besetzer und korrupte Politiker zerstörten fast systematisch all das, was es dem Land, dessen Bevölkerung immer und immer wieder versucht hatte, die Fesseln von Sklaverei und Diktatur abzuschütteln, ermöglicht hätte, eine bessere Zukunft zu haben. Duvalier und Aristide sind die letzten der Namen, die direkt mit dem Elend von Haiti verbunden sind und Aristide das Beispiel dafür, dass Hoffnungsträger ihr Versprechen keineswegs immer einlösen.
Das Erdbeben wird zum Teil als Chance wahrgenommen, als Gelegenheit, sauber neu beginnen zu können. Doch dies dürfte eine verhängnisvolle Illusion sein. Die Bevölkerung ist traumatisiert und hat jedes Recht, niemandem zu vertrauen. Weder den eigenen Politikern, noch dem Ausland, das jetzt Hilfe bringt, früher aber immer wieder als Besatzer auftrat.
Vertrauen ist die Grundlage für ein erfülltes Leben. Vertrauen darauf, nicht misshandelt zu werden. Vertrauen darauf, nicht bestohlen, vergewaltigt oder willkürlich getötet zu werden. Traumatisierte Menschen brauchen, sogar wenn Sie in Behandlung sind, zum Teil Jahre, bis sie wieder Vertrauen fassen. Ansonsten verweigern sie sich, handeln scheinbar irrational, missbrauchen Hilfe, weil sie sicher sind, dass diese nicht aus Güte gegeben wird, sondern um sie zu übervorteilen.
Das Volk von Haiti ist traumatisiert, zutiefst verletzt und voller Misstrauen und Wut... und – man schaue sich die Geschichte dieses Landes an – wer kann es ihm übel nehmen? Traurig ist nur, dass dies dazu führen wird, dass dieses Beben kein Neubeginn sein dürfte, keine zweite, dritte oder vierte Chance. Die Lücke wird wahrscheinlich noch grösser werden... sollte es hingegen doch gelingen, der Autor würde es sich überlegen, wieder an Wunder zu glauben.