Ernährung als Spiegelbild gesellschaftlicher Erwartungen
Die
Nestlé-Studie offenbart, dass Ernährung weit über die reine Nahrungsaufnahme hinausgeht. Sie ist zu einem komplexen Geflecht aus gesellschaftlichen Erwartungen, persönlichen Glaubenssätzen und tief verwurzelten Überzeugungen geworden. Menschen streben nicht nur nach Gesundheit und Mässigung, sondern wollen auch moralischen Anforderungen in Bezug auf Tierwohl und Klimaschutz gerecht werden. Diese Entwicklung spiegelt den wachsenden Einfluss gesellschaftlicher Diskurse auf individuelle Entscheidungen wider. Die gestiegene Zahl der Menschen, die sich intensiv mit ihrer Ernährung auseinandersetzen, unterstreicht diese Beobachtung. Ernährung ist somit nicht nur ein individueller Akt, sondern auch ein Ausdruck von Werten und Überzeugungen, die in der Gesellschaft verankert sind.
Druck und Frustration nehmen zu - Ein Teufelskreis
Die Studie zeigt eine alarmierende Zunahme von Druck und Frustration im Zusammenhang mit Ernährung. Der krisenbedingte Rückzug ins Private hat zwar den Fokus auf die eigene Ernährung verstärkt, aber auch die Unzufriedenheit erhöht. Die hohen Ansprüche an sich selbst führen zu einem Teufelskreis: Je mehr man sich mit der eigenen Ernährung beschäftigt, desto eher werden Diskrepanzen zwischen Ideal und Realität sichtbar. Dies führt zu Frustration und Schuldgefühlen, insbesondere bei der jungen Generation Z, die besonders stark von sozialen Medien und Schönheitsidealen beeinflusst wird. Die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach einer gesunden Ernährung und der Realität des Alltags erzeugt ein Gefühl der Ohnmacht und des Versagens.
Angst vor negativen Folgen - Ein ständiger Begleiter
Die Angst vor den negativen Folgen ungesunder Ernährung ist allgegenwärtig. Figurprobleme, Krankheiten, Leistungsschwäche und sogar ein früher Tod werden als mögliche Konsequenzen genannt. Diese Ängste werden durch Medienberichte und öffentliche Gesundheitskampagnen verstärkt, die oft auf drastische Bilder und Warnungen setzen. Die ständige Konfrontation mit diesen negativen Szenarien erzeugt ein Gefühl der Unsicherheit und des Kontrollverlusts. Ernährung wird so zu einem ständigen Balanceakt zwischen Genuss und Angst, zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung.
Diese drei Aspekte - gesellschaftliche Erwartungen, Druck und Frustration sowie Angst vor negativen Folgen - zeigen, dass Ernährung heute weit mehr ist als nur die Auswahl von Lebensmitteln. Sie ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, unserer Werte und unserer Ängste. Die Herausforderung besteht darin, einen Weg zu finden, der sowohl individuelle Bedürfnisse als auch gesellschaftliche Verantwortung berücksichtigt und dabei Raum für Genuss und Unbeschwertheit lässt.
Vier Strategien für mehr Unbeschwertheit
Die Studie identifiziert vier Strategien, mit denen Menschen versuchen, wieder mehr Unbeschwertheit in ihre Ernährung zu bringen:
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Die neue Mässigung: Ein neuer Ansatz zur Ernährungsumstellung ist die «Neue Mässigung». Dabei geht es um die Anpassung an moderne Bedürfnisse und die Integration neuer Werte wie Gesundheitsförderung und Nachhaltigkeit. Menschen ändern bewusst ihre Essgewohnheiten, um ihr Leben in ein neues Gleichgewicht zu bringen. Dazu gehört auch eine durchdachte Vorausplanung. Eine aktuelle Studie zeigt, dass mittlerweile 70 Prozent der Befragten ihren Einkauf im Voraus organisieren, was im Vergleich zu früher einen deutlichen Anstieg darstellt (2018: 53 Prozent). Ebenso gewinnt der Gedanke des Zero Waste an Bedeutung: Es wird angestrebt, Verpackungsmüll zu minimieren, Lebensmittel zu retten und damit wirtschaftliche sowie ökologische Ziele zu vereinen. 44 Prozent der Befragten bevorzugen beim Einkaufen Produkte mit minimaler Verpackung. Der Verzicht auf Fleisch wird immer wichtiger, um die Verantwortung gegenüber Tieren, der eigenen Gesundheit und dem Klima zu reduzieren
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Der neue Pragmatismus: Die Studie hat als weiteren selbstgewählten Ausweg den «Neuen Pragmatismus» erkannt. Personen, die diese Strategie anwenden, empfinden sich aufgrund von Sparzwängen und einem zunehmend hektischen Alltag dazu ermächtigt, ihre Ernährung pragmatisch zu gestalten und sich von ideellem Ballast zu befreien.



Die Leichtigkeit bei der Ernährung ist verloren gegangen, und viele Menschen fühlen sich aus dem Paradies einer unbeschwerten Ernährung ausgeschlossen. /


Der Alltag hat somit oberste Priorität, während die Ansprüche an Nachhaltigkeit und Ernährung diesem untergeordnet werden. In Deutschland gibt es einen signifikanten Anteil von etwa einem Drittel der Bevölkerung (34 Prozent), sowie fast zwei Drittel (61 Prozent) der Befragten aus der Generation Z, die anmerken, dass ihnen häufig die Zeit fehlt, um sich so zu ernähren, wie sie es eigentlich wünschen. Ein realistischer und praktischer Ansatz bezüglich der eigenen Gesundheit und gemeinsamer Mahlzeiten gewinnt an Bedeutung und wird wichtiger als die Forderungen nach ökologischer Nachhaltigkeit, was zu mehr Freiraum führt.
Die Inanspruchnahme von Home-Delivery-Diensten, die besonders von der jüngeren Generation Z geschätzt werden, ermöglicht eine pragmatische Selbstversorgung und entlastet von Verantwortung. Der Wunsch nach unkomplizierten Gerichten bei den eigenen Kochgewohnheiten ist von 31 Prozent (2018) auf 47 Prozent gestiegen. Gleichzeitig zeigen sich die Befragten experimentierfreudiger (von 30 auf 45 Prozent gestiegen). Moderne Convenience-Produkte, die als hochwertig gelten, wie Tiefkühlkost, Gewürzmischungen oder Pestos und Würzpasten, werden gerne genutzt, um beim Kochen unter Zeit- und Ideenmangel zu unterstützen und internationale Gerichte zuzubereiten. Beim gemeinsamen Kochen und Essen verteilt sich die Verantwortung auf mehrere Schultern, wodurch Ideale zugunsten der Bedürfnisse anderer weniger Gewicht erhalten. Grundsätzlich treten auch globale Ansprüche an Nachhaltigkeit wie Klimaschutz und faire Handelspraktiken in den Hintergrund.
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Der verdeckte Genuss im Nebenbei: Entdecken Sie die dritte Möglichkeit, um ohne Schuld- und Schamgefühle zu naschen. Viele Menschen in Deutschland fühlen sich aufgrund ihres hektischen Lebensstils, der oft mit schnellem Essen verbunden ist, regelrecht gezwungen dazu und rechtfertigen so ihr (Dauer-)Snacking. Beim nebenbei Naschen, das weniger wichtig genommen wird als eine ausgewogene Mahlzeit, werden die eigenen Ansprüche heruntergeschraubt. Die Ernährung dient in belastenden Situationen als seelischer Ausgleich.
Besonders bei der Generation Z zeigt sich ein Trend: Das Bedürfnis, im Bett zu snacken und sich dabei medial zu unterhalten. Die Hälfte der jüngeren Befragten gibt regelmässiges Snacken vor Bildschirmen wie Smartphones, Fernsehern oder Tablets an. Gesunde Snacks wie Joghurt, Obst und Nüsse werden von allen Befragten als beste Option genannt (47 Prozent), um sich diszipliniert durch den Tag zu ernähren. Snacks helfen zudem, Hunger zu überbrücken (40 Prozent), kleine Genussmomente zu ermöglichen (35 Prozent), Pausen zwischen Terminen zu füllen (24 Prozent) oder auch Hauptmahlzeiten teilweise zu ersetzen (17 Prozent). Spezielle Protein-Zusätze in Lebensmitteln erleichtern das Snacken und reduzieren die Notwendigkeit einer intensiven Beschäftigung mit der Ernährung. Mehr als jeder vierte Befragte (29 Prozent) legt Wert auf einen hohen Eiweissanteil in seiner Ernährung, und in der Generation Z ist es sogar mehr als jeder Dritte Befragte (36 Prozent).
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Der Retro-Trend: Ein weiterer Ansatz für eine entspanntere Ernährung, der in der Studie identifiziert wurde, ist der sogenannte «Retro-Trend». Viele Menschen sehnen sich nach den Essgewohnheiten vergangener Jahrzehnte, als die Welt des Genusses noch in Harmonie war, und setzen sich aktiv gegen gesellschaftliche Veränderungen zur Wehr. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass ein Teil der Befragten einen auffällig hohen Fleischkonsum aufweist - 28 Prozent der Teilnehmer stimmen der Aussage zu, dass sie Fleisch gerne geniessen und auch zukünftig nicht weniger davon konsumieren möchten. Sogar unter der Generation Z bezeichnet sich jeder Vierte als begeisterter Fleischliebhaber. In dieser rückwärtsgewandten Einstellung werden neue Erkenntnisse über Gesundheit bewusst ignoriert, traditionelle Ernährungsweisen leidenschaftlich verteidigt und Strömungen wie Veganismus mitunter sogar vehement kritisiert.
Erwartungen an Marken und Politik
36% der Befragten erwarten von der Politik regulatorische Verantwortung bei Ernährungsthemen. Konkrete Wünsche sind eine Senkung der Mehrwertsteuer für gesunde Lebensmittel, gesunde Angebote in Kantinen und eine Verpflichtung der Hersteller zum Schutz von Menschenrechten.
Noch höhere Erwartungen richten sich an Marken und Hersteller. 46% fordern mehr Verantwortung bei Tierwohl, Klimaschutz und Verpackungsmüll. Ihnen wird die Fähigkeit zugeschrieben, einen echten Wandel zu bewirken und Lösungen für eine gesunde und nachhaltige Ernährung anzubieten.
Veränderungen verstehen und Lösungen finden
Der Vergleich mit früheren Studien zeigt, wie sich Essgewohnheiten verändern. Es ist wichtig, diese Veränderungen zu verstehen und Wege für eine gesunde und ausgewogene Ernährung zu finden. Aufklärung und Motivation der Verbraucher:innen liegen in der Verantwortung von Herstellern, Händlern, Politik und Zivilgesellschaft.
Fazit
In den letzten Jahren hat die steigende Selbstbezogenheit vieler Menschen zu einem erhöhten Druck geführt, die eigenen Ernährungsideale zu erfüllen. Diese Entwicklung führt dazu, dass die Leichtigkeit verloren geht, und viele Personen fühlen sich aus dem Paradies einer unbeschwerten Ernährung ausgeschlossen.
Die Nestlé-Studie 2024 zeigt aber auch Lösungswege auf und unterstreicht die Verantwortung von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, gemeinsam eine gesunde und nachhaltige Ernährung zu ermöglichen.