Regula Stämpfli / Mittwoch, 15. Februar 2012
Diese Tage wurde das Presse-Foto des Jahres 2011 ernannt. Es zeigt eine schwarz-vollverschleierte Frau mit einem verletzten, halbnackten Mann im Arm. Die Jury zieht den Vergleich mit Michelangelos Pietà.
Das Foto ist am 15. Oktober 2011 in Yemen, einem der rückständigsten, blutigsten Regime der nach wie vor rückständigen, blutigen arabischen Welt entstanden. Das Pressefoto «dokumentiere den Arabischen Frühling». Die Jury ist wohl im Hirn vollverschleiert. Das Bild solle, so die Jury weiter, «einen intimen Moment» darstellen und damit für «gesamte Region», also auch Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien stehen. Eine islamistischere Verfälschung der Geschichte wäre wohl nur noch im Iran möglich.
Das Pressefoto des Jahres 2011 ist eine Ohrfeige an all die arabischen Menschen, die sich gegen die Unrechtsregimes von Mubarak, Ben Ali und Ghaddhafi gewehrt haben! Wer den Arabischen Frühling durch eine islamistisch verkrüppelt-vollverhüllte Frau, deren Augenschlitz so klein ist, dass frau wohl sogar durch eine Burka besser sehen kann, dargestellt sieht und dies zum Symbol für den Kampf um Freiheit und Demokratie deklariert, kümmert sich keinen Deut um menschliche Freiheit. Auf dem Bild muss die Frau sogar Handschuhe tragen, um ihren Geliebten, Vater, Bruder oder Sohn zu umarmen. Denn in Jemen ist es für Frauen lebensentscheidend, jedes Stück weiblichen Menschen und weibliche Haut zu verhüllen.
Die Jury zieht den Vergleich mit Michelangelos Pietà. Wäre ich religiös, würde ich das blasphemisch nennen. Mutter Maria hat ein Antlitz. Die Muttergottes ist Mensch. Ihr Sohn in ihren Armen ist tot. Lesen wir die Bergpredig, dieses wunderbare Stück vorkommunistischer Utopie, ist der tote Mariensohn zusätzlich für eine gute Sache gestorben, von seiner Mama, die Augen zum Weinen, Haare zum Streicheln und einen Mund für Wehklagen hat, zärtlich und die Welt anklagend in den Armen gehalten.
Schon als die New York Times das Foto publizierte, überkam mich das grosse Grausen. Die Arabische Revolution als klassisch islamistische Inszenierung! Das wäre in etwa so, wie wenn wir die Französische Revolution in unseren Schulbüchern mit Bischöfen, welche die Bastille stürmen, bebildern würden.
Das Pressefoto des Jahres 2011 ist nackter politisch-propagandistischer Geschlechterzynismus. Die Frau trägt nicht einfach ein Kopftuch, was kein Thema wäre, sondern sie ist in einem schwarzen, vorhang-ähnlichen Grabtuch, das jede Weiblichkeit unter sich beerdigt, eingesperrt. Kein Gesicht, keine Individualität, keine Persönlichkeit hat diese arabische Frau. Sie ist stoffgewordene Religionsfolter.
Die Vollverschleierung macht sie zum austauschbaren Objekt. Das Pressefoto zeigt die Verherrlichung eines Frauen-Apartheitsregimes, vor dem alle Menschen, die für den Arabischen Frühling gekämpft haben, Angst haben.
Bilder schreiben Geschichten. Das Pressefoto 2011 wird als eine der grössten Fälschungen der aktuellen Geschichte in die Annalen verblödeter Jurys eingehen.